Das Ziel verfehlt die Wahrheit Von Nadja Klinger

„Als heute morgen die Fernsehreporter angerufen haben, hat die Anstaltsleitung gesagt: ,Born ist schon weg.‘ Schade, denn eigentlich hatte ich geplant, den Hinterausgang zu nehmen und dann als Sensationsreporter den Medienauflauf vor dem Tor zu kommentieren.“ Medienfälscher Michael Born, kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, „Berliner Zeitung“ vom 30./31.5. 1998

Was ist das? Ein Politiker sitzt auf der Treppe am Bahnsteig, hält einen leeren Joghurtbecher in der Hand und sieht von unten den Passanten ins Gesicht. Nachdem zwanzig vorübergeeilt sind, überlegt der Mann, was er falsch macht. Schließlich setzt er sich auf den Gehweg vor dem Bahnhof, in die Nähe der Imbißbude. Nach einer Viertelstunde fällt Geld in seinen Joghurtbecher.

Das ist eine Aktion für die Öffentlichkeit. Und was ist das? Ein Abgeordneter aus dem Bezirksparlament kommt in die Kirche und klagt sein Leid. Er erzählt, daß die Mutter stirbt und er nicht das nötige Kleingeld habe, um ein letztes Mal zu ihr zu fahren. Es ist nicht die erste derartige Geschichte, die die Pfarrerin hört. „Ich koche Ihnen ein Essen“, sagt sie. Der Abgeordnete dichtet noch mehr Unglück zu seiner Geschichte dazu, bringt es sogar zu ein paar Tränen, doch die Pfarrerin bleibt streng: „Das Geld versaufen Sie doch nur.“ Essen will er nicht, sagt der Mann und läuft davon. Eine Straßenecke von der Kirche entfernt wartet ein Bettler auf ihn. Der Abgeordnete zeigt die leeren Handflächen. „Da kannste nur eine schlechte Zensur von mir bekommen“, sagt der Bettler.

Das ist die Aktion „Betteldiplom“, veranstaltet von der Obdachlosenorganisation mob, die einen ideellen Gewinn bringen soll. „Indem ein Bettler einem Politiker sein Handwerk beibringt, kann er einmal anders auf sich aufmerksam machen“, sagen die Akteure, „und sich in der Gesellschaft ins rechte Licht setzen.“

Und gehört das hier auch dazu? Überall dort, wo die vermeintlichen Bettler sind, lungern Fotografen. Sie verlassen sich nicht nur, wie unter Journalisten üblich, auf die Klischees, sondern fotografieren sie unablässig: Gutgekleideter junger Mann beschimpft den Politiker, der im Glascontainer steht und nach Pfandflaschen sucht; Frau mit vollen Netzen gibt nicht einmal die Mark aus ihrem Einkaufswagen her; alte, dünne Oma, die wahrscheinlich selber kaum was zu Essen hat, schüttet ihr Kleingeld aus dem Portemonnaie in den Joghurtbecher. Und die Pfarrerin verweigert sich.

Das gehört nicht nur dazu, es ist die Aktion an sich, ihr Wesen. Das Wesen besteht in der für Aktionen üblichen Illusion, daß sich durch sie etwas ändert an den üblichen Sichten, daß sich die festgefahrenen Meinungen bewegen oder – mit einem Mal – die bewährten Verhältnisse nicht mehr taugen.

Die Brücke, die die Entfernung zwischen der Gesellschaft und der Randgruppe, den Obdachlosen, überwinden soll, ist aus demselben Material wie die Behauptung, in absehbarer Zeit Arbeit für alle zu haben. Die Aktion der Ausgeschlossenen borgt sich ein bißchen Licht von der Gesellschaft: das Licht der Medien, welche die Entfernung erst geschaffen haben. „Vielleicht sehen wir uns wieder“, sagt der Politiker, als er sein „Diplom“ bestanden hat, zu dem Bettler. Ist er wenigstens zu sich selber ehrlich, dann denkt er zugleich: Hoffentlich für immer. Wenn eine Aktion in der Öffentlichkeit nicht zum geplanten Ziel führt, so heißt es, sie sei „danebengegangen“. Dabei ist sie genau dann ein Volltreffer. Denn wir erleben einen glücklichen Moment, einen unplanmäßigen, nicht organisierten Augenblick: die Wahrheit.

So ist die Oma, die das Kleingeld in den Joghurtbecher eines Bettlers schüttet, den sie zwei Tage später unter einem Sonnenschirm mit Parteisymbol Wahlkampf machen sieht, nicht auf ein übles Spiel hereingefallen. Nein, sie hat den Güte-Test bestanden. So hat sich die Pfarrerin, die, nachdem der verlogene Bettler gegangen war, ihm hinterhergerannt ist, um ihn zum Sozialamt zu begleiten, nicht durch Hilfsbereitschaft hervorgetan. Nein, sie hat stur die Verhältnisse ignoriert, nach denen, erwiesenermaßen, mit erbetteltem Geld zu über 90 Prozent Drogen und Alkohol bezahlt werden.

So haben die Fotografen, die in einer belebten Fußgängerzone für ihr Foto drei Politiker nebeneinander mit einem Plastebecher auf den Boden setzten, nicht etwa gezeigt, daß auch sie sich kein anderes Bild von Bettlern machen können als das, was schon in ihren Köpfen ist. Nein, ihre Fotos sagen uns und warnen zugleich: Jeder kann in diese Situation kommen.

Medienaktionen überbrücken keine Abgründe, überwinden nicht einmal kleine Entfernungen. Sie führen nirgendwoanders hin. Sie brauchen Aufmerksamkeit, gründen auf Reizen: Da ist nichts Moderates zwischen zwei Seiten.

Das Glücklose an den glücklichen Momenten ist jedoch, daß sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie wollen: Sie bauen die Distanz, den Abstand zwischen den Bettlern und der Gesellschaft beispielsweise, noch aus. Vielleicht wird die Oma den vermeintlichen Bettler, den sie während des Wahlkampfes unterm Parteischirm wiedererkennt, nicht wählen. Vielleicht. Mit Sicherheit aber wird sie kein Geld mehr geben. Vielleicht läßt sich die Pfarrerin in einem sachlichen Gespräch mit den Akteuren der Obdachlosenorganisation mob davon überzeugen, daß die Kirche über die Wärmestuben hinaus ihre Arbeit mit den Bedürftigen vernachlässigt und zunehmend Gelder verwehrt. Vielleicht. Unsinnigerweise ist mit ihr jedoch ein gesellschaftlicher Raum angegriffen worden, der, im Gegensatz zu zahllosen anderen Bereichen, in der Tradition steht, für jeden Menschen, ungeachtet seiner Situation, offen zu sein.

Vielleicht bleibt das lächerliche Foto mit den drei Politiker-Bettlern in der Fußgängerzone den Zeitungslesern lange in Erinnerung. Vielleicht auch nicht. Die Auswahl der Vorurteile, Ängste, Aversionen, Zurückhaltungen ... ist groß. Sie entspricht der Auswahl an Medienprodukten, den Auflagenhöhen, eben dem, was die Kundschaft bevorzugt. „Wenn ich Fälschungen im Fernsehen aufspüren sollte, hätte ich alle Hände voll zu tun“, sagt Michael Born, der die Wahrheit, indem er sie nicht leugnet, höher schätzt als seine Kritiker. „Außerdem wäre das sowieso sinnlos“, fügt er hinzu, „weil der Betrug am Zuschauer ja nicht strafbar ist.“ Im Gegenteil, er ist gewollt. Born hätte durch den Hinterausgang gemußt, um seine Sensationsreportage zu verkaufen.

Da auch die Bettler nicht auf direktem Wege das Interesse der Gesellschaft erlangen, kommen auch sie von hinten: durch das vordergründige PR-Interesse der Politiker, die sich an ihrer Aktion „Betteldiplom“ beteiligen, durch den Wahlkampf, durch die Berichte der Journalisten und Fotografen. Davon gab es nach Einschätzungen von mob schon so viele, daß die Aktion als erfolgreich bewertet werden kann. Demnach ist eine Träne mehr wert als ein warmes Essen. Und drei Bettler sind besser als einer.