Wiederaufbau in Schwarz-Weiß

■ Eine Ausstellung in Oldenburg dokumentiert orthodox-jüdisches Leben in der Ukraine und zeigt moderne Menoras

Das Foto eines alten Mannes vor einem Tal. Obwohl er seinen Blick nicht in die Kamera richtet, läßt seine Haltung erkennen: Über den Dunst am Rande des Tals hinweg sieht er, was dem Betrachter verborgen bleibt. Vor 57 Jahren ist seine gesamte Familie umgebracht worden, und mit ihr über 13.000 weitere Juden aus Dnjepopetrowsk in der Ukraine. Auf den folgenden Fotos (und den Bildunterschriften) erzählt er diese Geschichte. Seine Mimik, seine Hände berichten. Und dann will er gehen. Doch nicht bevor er seine Rettung geschildert hat. Kurz bevor die Nazis alle Juden zusammentrieben, hat ihn sein Vater in Todesangst über einen Bretterzaun geworfen. Mit ihm überlebten nur sechs andere Juden aus der Stadt. Aufrecht blickt er nun in die Kamera des Hamburger Fotografen Joachim Rühl. Die Sonne scheint auf das Tal, und der Schatten des Mannes reiht sich ein in die Schatten der Baumstämme.

Vergangenheit und Gegenwart in Dnjepopetrowsk. Das Schtetl ist untergegangen – mit all seiner Romantik, die Nichtjuden immer wieder hineininterpretiert haben. Nun entsteht Neues. Die überlebenden jüdischen Familien der Umgebung – nach der Nazi-Barbarei weiterhin einem Antisemitismus unter der kommunistischen Regierung ausgesetzt – bauen ein Gemeindeleben auf. Joachim Rühl hat sie dabei begleitet. Unter dem Titel „Orthodoxie und Pluralität im Judentum“ dokumentieren seine Schwarz-Weiß-Fotos jetzt in einer Ausstellung im Oldenburger Kulturzentrum PFL, wie Menschen anknüpfen an das Schtetl, an ein orthodoxes jüdisches Leben.

Maßgeblich finanzieren Vertreter einer ultraorthodoxen Strömung des Judentums, die Lubavitcher, den Wiederaufbau. So hat Rühl mehrheitlich Juden (und keine Jüdinnen) fotografiert, die sich ernsthaft und hingebungsvoll dem Gebet widmen, singen, die Thora entrollen. Daneben gibt es auch Fotos von Kindern – in der Schule, beim Spiel, beim Gottesdienst. Die Lubavitcher haben in Dnjepopetrowsk eine Schule für über 800 Schüler gebaut. Außerdem haben sie in einer alten Synagoge ein Waisenhaus und Jugendzentrum eingerichtet. Wiederaufbau als soziale Hilfe. An die bittere Armut, unter der die Menschen im alten Schtetl litten, knüpft das neue Leben nicht an.

Und sonst? Wenn auch die Klezmer-Begeisterung das Interesse am Judentum Osteuropas, an den Ashkenazim, geweckt hat, haben die wenigsten eine genaue Vorstellung davon. Es ist deshalb ein großes Verdienst dieser Ausstellung, daß sie unsentimentale und realistische Bilder des orthodoxen Ostjudentums zeigt. Dabei zeugen zerstörte Gebetsbücher oder die zu Sowjet-Zeiten in ein Kaufhaus umgewandelte Synagoge von der Schtetl-Vergangenheit, von der Frömmigkeit auf der einen und der Verfolgung auf der anderen Seite. Noch immer lebt die Gemeinde nicht im Wohlstand, noch immer sind die Menschen einer Medienhetze ausgesetzt, noch immer suchen sie Halt im Glauben.

Was auch zweifelhaft ist. Denn die Orthodoxie schließt Menschen aus – Menschen etwa, deren Kultgegenstände in der Oldenburger Ausstellung den Fotos gegenübergestellt sind. Die jüdische Gemeinde hier hält es nicht nur für denkbar, das Wort Gottes zu hinterfragen. Sie hat sich auch – völlig unorthodox – einen weiblichen Rabbiner gewählt.

So ist der Unterschied zwischen den Fotos aus dem fernen Dnjepopetrowsk und den Menoras in ihrem modernen Design ein Zeichen für die Pluralität des Judentums. Und so ist die Ausstellung zugleich als ein Appell der Oldenburger jüdischen Gemeinde an die Orthodoxen in der Ukraine, Jerusalem oder anderswo zur Toleranz zu verstehen. Gunda Wöbken-Ekert

„Orthodoxie und Pluralität im Judentum“ bis zum 14. Juni im Kulturzentrum PFL, Oldenburg. Führungen am 7. und 14. Juni um 15 Uhr. Der empfehlenswerte Katalog (unter anderem mit einem Aufsatz Michael Daxners zur Schtetl-Tradition) kostet 15 Mark