Verschwinden auf Camorra-Art

Die Schlammkatastrophe im Neapolitanischen wird von Bossen genutzt, um Spuren von Verbrechen zu verwischen  ■ Aus Quindici Werner Raith

Daß er sich da auf eine „vielleicht nicht allzu bequeme Sache eingelassen“ hat, darüber war sich Romolo P. schon klargewesen, als er den Auftrag übernahm; „aber irgendwie dachten wir halt alle, nach dieser Katastrophe wird doch alles ein bißchen anders“. Romolo ist Lastwagenfahrer und hat sich bei einer Firma aus dem neapolitanischen Hinterland anheuern lassen, um die mittlerweile erstarrten Schlammassen aus den Anfang Mai in den Muren versunkenen Städten in der Campania wegzuschaffen und auf ein eigens dafür vorbereitetes Gelände in der Gemeinde Sperone zu bringen, etwa 12 Kilometer von Quindici entfernt, einem der besonders betroffenen Orte.

Alternativ fährt er auch Routen für den Dreckabtransport von Sarno nach Domicella, eine Route von gut 17 Kilometern. Doch was zunächst eher wie eine Routinearbeit aussieht, entwickelt sich für Romolo und viele seiner Kollegen zum Alptraum. Am vorletzten Wochenende wurde auf einen der Lkw-Transporte geschossen, und seither müssen die Schlammabfuhren mit Polizeieskorte durchgeführt werden. Romolo darf nicht einmal mehr seinen richtigen Namen sagen, wenn er auf der Straße angehalten oder von Journalisten angesprochen wird.

Lkw-Transporte sind, das weiß im Neapolitanischen jeder, eine ureigene Domäne der Camorra. Doch weil „die Behörden doch vom ersten Tag an versichert haben, jedes auch nur winzige Auftreten der Organisierten Kriminalität (OK) werde sofort geahndet und beseitigt“, sagt Romolo, „und weil man dann doch irgendwie glaubt, daß selbst Camorristen ein wenig Pietät haben müßten und sich nicht an der Naturkatastrophe bereichern werden“, hat er den Auftrag angenommen. Seine Frau und seine Kinder machen ihm mittlerweile bittere Vorwürfe: Er hat sie nach Oberitalien bringen müssen, zu Verwandten; einstweilen wenigstens.

Bei den Carabinieri, die nun die Transporte überwachen, und im Sicherheitsausschuß der betroffenen Gegenden, in der der Präfekt Renato Stranges mit Sondervollmachten herrscht, ist man ebenso alarmiert wie bei der Staatspolizei und den Gemeindebehörden. „Fünfunddreißig Lastwagen zu schützen erfordert die vierfache Zahl von Polizisten im direkten Einsatz und noch einmal soviel in Alarmbereitschaft“, teilt der Krisenstab mit; und dies „vielleicht noch für einige Zeit“: Soeben hat es in der Gegend wieder zu regnen begonnen, möglicherweise sind weitere Muren zu befürchten, und dann werden die Transporter noch lange ausrücken müssen.

Probleme hatte es schon vor zwei Wochen gegeben mit der Abfuhr des Schlammes. Die ersten Grundstücke, die die Behörden für das Abkippen des mit Geröll, Ziegeln, Ästen und Haushaltsgegenständen durchmischten Breies zur Verfügung gestellt hatten, konnten nicht genutzt werden: „Da standen Hunderte von Dorfbewohnern mit drohenden Gesichtern davor und behaupteten, daß genau hier ein Fußballplatz und ein Erholungsgelände vorgesehen seien“ – davon stand „zwar überhaupt nichts im Bebauungsplan“, wie sich ein Mitarbeiter des Präfekten erinnert, aber den Grund für die hartnäckige Verweigerung haben die Beamten dann doch herausgebracht: Das Gelände war vor einiger Zeit einem der wichtigsten Camorra- Bosse der Gegend entzogen worden – und da fürchteten sich die Einwohner schlichtweg vor Repressalien, wenn sie die Schlamm- Anfuhr einfach so hingenommen hätten.

„Ich könnte mir heute noch die Haare ausreißen“, sagt Romolo, „weil ich das damals nicht als erstes, ernstes Zeichen dafür genommen habe, daß die Camorra hier wieder die Zügel übernimmt.“ Aber nein, da man in den Tagen des Desasters so unbekümmert über die Camorra mit ihren illegalen Steinbrüchen und schwarzen Waldrodungen als angebliche Hauptschuldige an den Erdrutschen herziehen konnte, ohne daß diese auch nur „ein Zeichen des Ärgers von sich gegeben hat“, glaubte man schon, der Staat werde sich, wenigstens dieses eine Mal, wirklich durchsetzen.

Die Gründe für die Schüsse auf die Lastwagenfahrer sind indes noch umstritten. Die zuständige Staatsanwaltschaft von Avellino geht zunächst noch davon aus, daß da „jemand“, sprich: eine Camorra-Gang Schutzgelder von den vom Staat vorher säuberlich auf OK-Verdacht gesiebten Beseitigungsfirmen erpressen will. Tatsächlich berichten Arbeiter, daß sie von Unbekannten mit einschlägigen „Botschaften“ für ihre Chefs beauftragt worden seien.

Doch auch die Entdeckung, daß eine der Schlamm- Firmen vom – allerdings selbst unbescholtenen – Bruder eines Camorra-Bosses der Gegend betrieben wird, ist gut für eine These – steht man hier bereits vor dem Beginn eines Shoot-outs für künftige Aufträge, etwa beim milliardenschweren Wiederaufbau der überschlammten Gemeinden?

Einer der Carabinieri aus der Eskorte von Romolo weiß aber noch von wesentlich beunruhigenderen Arbeitshypothesen: Danach geht es den Camorra-Unternehmen, zunächst jedenfalls, gar nicht unbedingt um Schutzgeld oder um die Akquise der Aufträge zum Zwecke des Absahnens – tatsächlich ist das bisher bereitgestellte Gesamtvolumen mit gerade mal umgerechnet einer halben Million Mark für Quindici noch eher bescheiden. Vielmehr hat die Camorra mindestens zwei weitere, viel wichtigere Gründe, fremde Firmen wegzuscheuchen oder unter ihre Kontrolle zu bringen: „Als auf den Hügeln ringsum die Erde zu rutschen begann“, raunt einer der Eskortebeamten Romolos, „sind auch Leichen entdeckt worden, die schon weitgehend verwest waren.“ Wahrscheinlich hatte die Camorra da oben auf den Gipfeln oder in den alten Steinbrüchen „Friedhöfe“ von Opfern angelegt, die vormals spurlos verschwunden waren.

Der andere Grund: „Auf den Vermißten-Listen, wo ja noch immer gut sechs Dutzend Personen stehen, ist wohl auch der Name so manch eines Camorra-Bosses eingetragen – manch einer, der seit Jahren steckbrieflich gesucht wird“, hat Romolo aufgeschnappt: „Findet man ihn nicht, wird er aufgrund der Vermißtenanzeige hier nach einiger Zeit für tot erklärt, alle Ermittlungen gegen ihn werden eingestellt.“ Weshalb die Camorra großes Interesse hat, daß von den Vermißten insgesamt nur noch wenige gefunden werden – je mehr auf der Liste bleiben, um so weniger argwöhnisch wird man die Namen jener betrachten, die am Ende unauffindbar sind.

Bürger von Sarno, die von dieser These gehört haben, wollen sich in einem Komitee zusammentun und fordern, daß jeder Fußbreit des Schlamms vor dem Aufladen auf mögliche Leichenteile untersucht wird. Das aber würde wiederum den Abtransport stark verzögern, weshalb auch die Behörden die Verschwinde-These der Camorra nicht so gerne hören.

Unterderhand geben die meisten Ermittler dieser Überlegung aber eine gar nicht so unbeträchtliche Wahrscheinlichkeit. „Eine bequemere Art, das eigene Untergetauchtsein faktisch zu beenden und unter anderem Namen irgendwo ein Leben ohne Vorstrafenregister zu beginnen, kann man sich gar nicht ausdenken“, sagt der Eskortebeamte ohne auch nur einen Anflug von Zweifel.

Romolo benutzt das Abkippen des Schlamms in Sperone, um seine Panzerweste abzulegen, unter der er trotz des leichten Regens beträchtlich schwitzt: „Während wir kippen“, weiß er, „stehen die Polizisten mit den Gewehren im Anschlag herum, da dürfte kaum einer auf uns losballern: Die schießen sicher nur während unserer Fahrt oder an einer Straßenkreuzung, wenn die Polizisten nicht schnell reagieren können.“ Man lernt, eben auch unter diesen Umständen das Leben einzurichten.

Wenig danach ist dieses Arrangement allerdings schon wieder schwer gestört: Aus Neapel kommt über Radio die Nachricht von einer Schießerei, ein Mann wurde getötet – ein Lkw-Fahrer wie Romolo, im Gegensatz zu ihm allerdings vorbestraft. Obwohl es nicht den mindesten Hinweis auf eine Verbindung mit den Aufträgen von Quindici oder Sarno gibt, erklären mindestens vier Lastwagenfahrer aus der Firma Romolos über Sprechfunk, sie würden ab sofort nicht mehr weiterarbeiten.

Romolo zieht sein Handy heraus, er ruft seine Frau an. „Was meinst du?“ fragt er „Soll ich auch aufhören?“ Er senkt den Kopf, atmet tief durch, sagt nur „Va be'“ und drückt den Aus-Knopf. „Sie will natürlich, daß ich aufhöre“, murmelt er, „das kann ich auch verstehen.“

Im Radio kommen Berichte von den Kommunalwahlen vom Sonntag vergangener Woche. In zwei Städtchen der Umgebung, deren Gemeinderat wegen camorristischer Verbandelung aufgelöst worden war, sind nur so wenige Bürger zu den Urnen gegangen, daß die Wahl ungültig ist, die Kommunen weiter ohne Bürgermeister und Stadtrat bleiben. Doch so merkwürdig es erscheint: Gerade dieses Zeichen ungebrochener Stärke der Camorra veranlaßt Romolo nun, doch weiterzumachen. „Irgend jemand muß den Dreck doch beseitigen,“ sagt er, und es bleibt unklar, welchen Dreck er da meint. Entschlossen wirft er den Motor an, schiebt seinen Kopf zum Fenster hinaus und ruft der Eskorte zu: „Los, ihr Faulpelze, es gibt was zu tun!“