■ In Südafrika war die Wahrheitskommission ein Erfolg. Ist sie auch ein Modell für Ruanda oder Bosnien? Ein Gespräch mit Richard Goldstone
: Eine Art politischer Therapie

taz: Richter Goldstone, in Südafrika nähert sich die Wahrheitskommission dem Ende ihrer Arbeit. War der Prozeß ein Erfolg?

Richard Goldstone: Ja. Bei so komplexen menschlichen Institutionen kann man nie von einem hundertprozentigen Erfolg sprechen. Dennoch ist Südafrika heute eine bei weitem gesündere Gesellschaft, als sie es ohne die Kommission wäre.

Die Kommission heißt im vollen Wortlaut „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“. Glauben Sie, daß beide Ziele – Wahrheitsfindung und Versöhnung – erreicht worden sind?

Auch hier gilt: sicher nicht vollständig. Bei vielen Dingen ist die Wahrheit herausgekommen, bei anderen noch nicht. Was die Versöhnung angeht – ganz sicher gibt es jetzt eine Übereinstimmung darüber, daß Versöhnung wichtig ist. Und ich bin überzeugt, daß ohne die Kommission all die schrecklichen Dinge, die in der Apartheid-Zeit passiert sind, mehr verdrängt würden. Die Wahrheitskommission hat diese Verweigerungshaltung unmöglich gemacht. Südafrika als Ganzes – und speziell das weiße Südafrika – kann die Apartheid und ihre Verbrechen nicht mehr abstreiten. Das hat das gesellschaftliche Klima entscheidend verändert.

Bei weitem nicht alle Südafrikaner sind einverstanden mit diesem Prozeß. Gerade die Amnestierung von Tätern halten viele für ungerecht. Auch die anfängliche Hoffnung, daß die Täter massenhaft hervorkommen, hat sich nicht erfüllt. Hätte es einen anderen Weg gegeben, an die Täter heranzukommen?

Nein, ich glaube nicht. Es hätte viel zu lange gedauert, wenn man die Täter strafrechtlich verfolgt hätte, und es wäre wenig dabei herausgekommen. Der Blickwinkel bei einem Gerichtsverfahren ist sehr eng. Dagegen untersucht die Kommission zweieinhalb Jahre lang Ereignisse in einem Zeitraum von 34 Jahren. Zudem wäre es in der Mehrzahl aller Verfahren zu keiner Verurteilung gekommen, denn es gab nicht genug Beweise. Für Südafrika ging es gar nicht um die Wahl zwischen Strafverfolgung oder Amnestie, sondern um die Wahl zwischen gar nichts und Amnestie.

Was aber antworten Sie Opfern, wie beispielsweise der Familie Biko, die fordert, daß die Mörder von Steve Biko vor Gericht kommen?

Ich verstehe ihre Gefühle und respektiere sie. Trotzdem: Ohne Wahrheitskommission hätten sie nie erfahren, wer die wirklichen Täter waren. Es war klar, daß Steve Biko von Mitgliedern der südafrikanischen Polizei ermordet wurde. Nur: Wer war es? Außerdem ist doch das öffentliche Erzählen von Wahrheit auch eine Form von Gerechtigkeit – und der Bestrafung. Das gilt für Täter und Opfer gleichermaßen. Kein normaler Mensch mag es, vor vollen Sälen und laufender Fernsehkamera aufzustehen und Morde und Folterungen zuzugeben. Für die Opfer ist es zudem eine Form der öffentlichen Anerkennung. Aber ich stimme Ihnen zu: Die Kommission ist ein Kompromiß, und bei einem Kompromiß verliert jede Seite etwas.

War die Kommission nicht vielmehr eine Therapie für die Nation als ein politischer Prozeß? Und hätte das Gewicht nicht stärker auf der politischen Seite liegen sollen?

Ja, das war eine Therapie für die Nation, mit politischen Implikationen. Aber genau das sollte es auch sein. Das gilt auch für ähnliche Prozesse in anderen Teilen der Welt. Selbst in Ihrem Land war die Öffnung der Stasi-Akten eine Form von Therapie.

Die Gefahr dabei ist aber doch, daß die politisch Verantwortlichen ungeschoren bleiben.

Da bin ich nicht sicher, das ist eine Frage der Beweise. Es hängt davon ab, was die Kommission am Ende herausfinden wird.

Inwieweit kann das südafrikanische Modell Vorbild für andere Regionen sein?

Das ist immer ein zweiseitiger Prozeß. Ehe hier das Gesetz gemacht wurde, haben wir uns sehr genau mit den Erfahrungen anderer Länder befaßt: z.B. Deutschland, Chile und Argentinien. Jetzt sind viele Experten in aller Welt der Meinung, daß das südafrikanische Modell gut funktioniert hat.

UN-Generalsekretär Kofi Annan hat kürzlich vorgeschlagen, für die Großen Seen in Zentralafrika eine Wahrheitskommission einzurichten. Was halten Sie davon?

Ich glaube nicht, daß man das Modell einfach transplantieren kann. Im Einzelfall muß man sich die lokalen und regionalen Gegebenheiten sehr genau ansehen. Aber das südafrikanische Beispiel ist sehr wichtig. Ich stehe den öffentlichen Hinrichtungen in Ruanda im vergangenen Monat sehr kritisch gegenüber. Das war eine schreckliche Sache und schlicht ein Racheakt. Südafrika hingegen hat sich bewußt für Versöhnung und Vergebung entschieden.

Ist dieser Weg in Zentralafrika derzeit überhaupt gangbar? Dort wird an so vielen Stellen gekämpft und kommt tagtäglich soviel Haß zum Vorschein, daß Versöhnung nur schwer möglich erscheint.

Das war in Südafrika vor ein paar Jahren auch so. Gerade in Ruanda muß unbedingt ein anderer Weg gefunden werden, denn man kann niemals 150.000 Menschen vor Gericht stellen oder in Gefängnisse sperren. Die ruandische Regierung hat sich auch schon etwas bewegt, denn jetzt gibt es Gesetze, die ermöglichen, daß rangniedere Täter amnestiert werden, wenn sie Geständnisse machen.

Für Ruanda laufen nun aber bereits die Kriegsverbrecherprozesse, die Sie unter anderem mit vorbereitet haben. Schließt das eine das andere nicht aus?

Das ist eine andere Dimension, denn es geht um Völkermord. Ich glaube, daß beide Prozesse parallel ablaufen und sich ergänzen können. So war es doch in Südafrika auch. Da gab es die Wahrheitskommission und zugleich strafrechtliche Verfahren.

Andere Beispiele sind immer wieder Bosnien und Nordirland. Braucht man dort Wahrheitskommissionen?

Nordirland ist sehr interessiert. Erst vor kurzem war wieder eine Delegation hier, und es war nicht die erste. In Bosnien gäbe es Raum für eine Kommission. Allerdings ohne Amnestieregelungen – denn was dort geschah, war zu schlimm – und nur mit Zustimmung der Menschen. Eine wichtige Voraussetzung für das Modell ist, daß die Opfer ihm zustimmen. Man kann ihnen den Prozeß der Versöhnung nicht aufzwingen. Wenn sich aber in Bosnien alle drei Seiten darauf verständigen könnten, öffentlich ihre Geschichten zu erzählen, könnte das außerordentlich wertvoll und hilfreich sein.

Interview: Kordula Doerfler