Erster Unfall bei Tempo 200

■ Der ICE gilt als sehr sicher. Er hat gegenüber seinem Konkurrenten TGV aber einen möglicherweise entscheidenden Konstruktionsnachteil

„Das ist weltweit der erste schwere Unfall mit einem Zug bei mehr als 200 Stundenkilometern“, sagte gestern Bahnexperte Karlheinz Rößler vom Verkehrsexpertenbüro Vieregg/Rößler/Bohm in München. Der Hochgeschwindigkeitsverkehr ist im allgemeinen sehr sicher – besonders auf grader Strecke. Das hat zunächst einmal physikalische Gründe: Die kinetische Energie drängt den Zug weiter in die Richtung, in die er zuvor gefahren ist; ein Schlag von der Seite oder auch ein fehlendes Gleisstück sind im allgemeinen kein größeres Problem.

Bei 20 Stundenkilometern oder in einer scharfen Kurve gerät ein Zug dagegen leichter mal ins Kippen. Zudem ist der ICE ein besonders schwerer Zug, was ihm von Umweltschützern immer wieder den Vorwurf eingetragen hat, ein Energiefresser zu sein. In punkto Sicherheit ist großes Gewicht dagegen von Vorteil. Doch der ICE hat einen Konstruktionsnachteil gegenüber dem wesentlich leichteren TGV aus Frankreich, der beim gestrigen Unglück möglicherweise entscheidend war: Er hat keine Jakobsdrehgestelle an den Achsen, sondern ist nach dem altem Muster konstruiert, bei dem jeder Wagen einzeln auf seinen beiden Achsenpaaren aufliegt.

Jakobsdrehgestelle dagegen verbinden die Achsen des einen mit dem anderen Wagen – der Auflagepunkt liegt jeweils zwischen den Wagen. Dadurch ist der Zug stabiler, und es ist fast ausgeschlossen, daß sich ein Wagen beim Entgleisen querstellt. Bei einem Unglück konventionell konstruierter Züge wie dem ICE besteht dagegen die Gefahr, daß ein aus den Gleisen gesprungener Wagen die hinteren Zugteile blockiert und sie sich wie eine Ziehharmonika ineinander verkeilen.

Der TGV zwischen Lille und Paris ist einmal bei einer Geschwindigkeit von 300 Stundenkilometern entgleist, weil bei Regen ein schlecht verfüllter Bombenkrater aus dem 2. Weltkrieg ausgewaschen wurde. „Ich hab' das gesehen – die Gleise hingen nur noch in der Luft“, berichtet Rößler. Doch der TGV fuhr neben den Schienen weiter geradeaus und kam nach einer holprigen Fahrt nach einigen hundert Metern zum Stehen.

Für die Sicherheit unter Brücken und neben anderen Hindernissen gibt es zudem vielerorts sogenannte Fangschienen. Sie sollen den Zug bei einem Unfall weiter in Geradeausrichtung halten und dabei unterstützen, ohne Kollision mit dem Hindernis auszurollen.

Intercity-Expreß-Züge gibt es in Deutschland seit dem Sommerfahrplan 1991. Die 60 Züge der ersten Generation haben nach Angaben einer Sprecherin der Bahn AG bereits mehr als 100 Millionen Fahrgäste transportiert. Planmäßig erreicht der ICE eine Höchstgeschwindigkeit von 280 Stundenkilometern; auf Teststrecken hat er aber auch schon mehr als 400 Stundenkilometer geschafft. In dem Unglückszug „Wilhelm Conrad Röntgen“ mit 14 Waggons gab es Platz für 759 Fahrgäste. Durchschnittlich ist jeder ICE 500.000 Kilometer im Jahr unterwegs – eine Laufleistung, die nach Angaben von Siemens von keinem anderen System weltweit erbracht wird. Das sei auf eine „hohe technologische Zuverlässigkeit sowie ein integriertes Wartungskonzept zurückzuführen“.

Vor drei Monaten war es schon einmal zu einem Unfall mit einem ICE gekommen, der aber glimpflich ablief. Der Zug hatte ein Schienenbaufahrzeug gerammt. Damals wurden drei Bahnarbeiter schwer und drei weitere leicht verletzt. Anne Barthel