■ Der CDU/CSU wird auch ihre Lagerwahlkampf-Inszenierung nicht mehr helfen. Ein Panoramablick vier Monate vor der Bundestagswahl
: Warum das kleinere Übel siegen wird

Die CDU hat im Mai ihre Strategie für die Bundestagswahl 1998 festgelegt. Verändert das die Lage? Vieles spricht dafür, daß die Zeit von Kohl abgelaufen ist, daß die SPD stärkste Partei und Schröder Kanzler wird. Zu klären bleibt vor allem, wer Vizekanzler wird. Fischer oder Schäuble. Wahrscheinlicher ist Schäuble in einer Großen Koalition.

Diesmal sind die Strategieprobleme der CDU schwieriger als die der SPD. Zuviel Macht macht dumm, sagte Lord Acton. Zu lange Macht auch, läßt sich hinzufügen. Bei Kohl liegt beides vor.

Es sieht wieder einmal nach einem Fall pathologischen Lernens aus. Was erfolgreich war, wird unter deutlich veränderten Verhältnissen wiederholt – und scheitert. Kohl besteht auf der Neuauflage von Aufschwung-, Anti-PDS- und Kohl-Kampagne. Aber die Menschen haben zwischen 1994 und 1998 Erfahrungen gemacht. Sie können Aufschwung von Arbeitslosigkeit unterscheiden. Sie lehnen den Kommunismus ab, aber sie fürchten ihn nicht mehr. Sie halten Kohl für so frisch wie eine Zeitung von gestern. Gerade die Wiederholung macht diesmal den Blick frei auf eine ideenlose Inszenierung von Machtgewinnung. Natürlich gibt es Interessen, die an Kohl festhalten, aber es gibt keine Naivität mehr.

In die Krise geriet die CDU- Strategie nach dem 1. März, als die Niedersachsen den jungen Kohl, Gerhard Schröder, zum Kanzlerkandidaten der SPD nominierten. Lange fixiert auf die Annahme, Lafontaine werde der Gegenkandidat, ist es der CDU bis heute nicht gelungen, sich auf diese neue Konstellation einzustellen.

Das argumentative, zukunftsorientierte, anspruchsvolle Konzept Schäubles wurde beiseite geräumt. Nicht, daß es mehr Chancen geboten hätte. Man kann nicht binnen ein paar Wochen eine Nichts-als-Regierung-Partei in eine Programmpartei umwandeln und dafür auch noch Zustimmung beim Wahlvolk finden, das von einer Regierungspartei Lösungen, nicht Debatten erwartet.

Die Union wird sich diesmal nicht als jener Block formieren, der sie 1994, zu ihrem Vorteil, war. Die Nachfolgefrage läuft – schwer kontrollierbar – im Wahlkampf mit. Schäuble, Rühe, Stoiber vertreten eigene Interessen, sie haben auch andere Vorstellungen vom Wahlkampf. Läuft es schlecht, wird man wieder davon hören. Hinzu kommt, daß der CSU in Bayern der Verlust der absoluten Mehrheit droht. Das „Bayern zuerst“ richtet sich – zur Freude aller Bayern – zunächst gegen Bonn. So bleibt die CSU ein Unsicherheitsfaktor für die CDU. Bis in die Nachwahlkommentare ihrer Wahl, das heißt, bis ein paar Tage vor der Bundestagswahl.

Schon die Interessen von Kohl und der Nach-Kohl-CDU sind verschieden. An der Frage des Umgangs mit der FDP wird das konkret, vor allem im September, wenn es um Leihstimmen und eine Zweitstimmenkampagne gehen wird. Kohl braucht die FDP zum Weiterregieren, die Nach-Kohl- CDU hat noch eine zweite Präferenz: die Große Koalition. Wer darauf spekuliert, will naheliegenderweise keine Stimmen an die FDP verschenken. So ist das Interesse des Kandidaten nicht identisch mit jenem der Partei, die auch an morgen denken muß. Gelingt es der CDU nicht, die Position von Schröder zu erschüttern, hat sie die Wahl verloren. Diese Anti-Schröder-Kampagne ist für die CDU notwendig, aber sie ist auch riskant. Denn sie kann, wie jedes negative Campaigning, die Mobilisierung des Gegners bewirken und ihm bisherige Nichtwähler in die Arme treiben. Hinzu kommt, daß Schröder, anders als Strauß 1980, nicht polarisiert. Der Bumerangeffekt kann deshalb Kohl treffen, der – mit Hilfe von Tiedje überziehend – eine abstoßende Kampagne gegen einen populären Politiker inszeniert. Und das auch noch im nackten Eigeninteresse.

Manches stimmt ja an einer solchen Kampagne, sonst wäre sie von vornherein in den Sand gesetzt. Es gibt auch engagierte Sozialdemokraten, die Schröder für inhaltlich beliebig und machtpolitisch fixiert halten. Entscheidend dürften daher die Reaktionen von Schröder und der SPD sein. Die erfolgreichsten Rezepte heißen Gelassenheit und Geschlossenheit. Auch die Reaktion der liberal-kritischen Öffentlichkeit zählt. Hat sie die moralische Kraft zur eigenen Parteinahme gegen die Schmutzkampagne und die eigenen Zweifel am Kandidaten? Deckt sie die Mechanismen einer Kampagne auf, die nicht vom Gegensatz dieser beiden Kandidaten der Mitte lebt, sondern ihn erst schaffen will? Nimmt sie den Kampf gegen die Medienhegemonie von Springer und Kirch auf?

Die SPD ist bislang die Partei des glücklichen Zufalls. Alle Strukturprobleme bleiben, aber jetzt geht es erst einmal aufwärts. Erst wurde ihr Schröder von den niedersächsischen Wählern in die Hände gespielt. Dann half ihr Höppner bei der Antwort auf das PDS-Problem: Doppelstrategie auf einem gespaltenen Wählermarkt. In Bonn darf man für Westdeutsche anders über die PDS denken als in Magdeburg, Schwerin oder Erfurt für Ostdeutsche.

Auch der dramatische Vertrauensverfall von Kohl in den neuen Bundesländern nutzt den Sozialdemokraten. Die SPD erntet, gerade weil die blühenden Landschaften nicht tragen. So kippt der Osten die wohl immer noch stabile Balance zwischen beiden Lagern im Westen.

Diesmal kann die SPD auch von der strukturellen Ungerechtigkeit der Überhangmandate in Ostdeutschland profitieren, die 1994 die CDU in so starkem Maße begünstigten. Es könnten genau die Zusatzmandate sein, die ihr zur Kanzlerschaft in Bonn verhelfen.

Eine Perspektive und Präzisierung für das Doppelproblem von Aufbruch und Sicherheit fehlt allen. Die Zahl der Wähler, die in den verschiedenen Sachgebieten keiner Partei die Lösungskompetenz zuweisen, wächst. Weil die zündende Formel noch fehlt, wird der Wahlkampf viele frustrieren. In diese Lücke werden Personalisierungs-, Machtwechsel- und Angstkommunikation stoßen.

Doch die christdemokratische Anti-PDS-Kampagne fällt, anders als 1994, eher harmlos aus. Denn diesmal verunsichert sie die Anhängerschaft der Union, ohne die SPD zu spalten. Sie stärkt auch die PDS in Ostdeutschland. Damit schwächt sie die Aussichten für Rot-Grün in Bonn, zugleich aber auch die Chancen für eine neue Regierungsmehrheit von Schwarz- Gelb, die einzige Möglichkeit für eine Rückkehr Kohls. Daran zeigt sich, daß Kohl auch nicht mehr Herr der Folgen seiner Wahlkampagne ist. Das kleinere Übel wird siegen. Joachim Raschke