„Wir fallen zurück in die organische Welt“

■ Der Geschwindigkeitsforscher Wolfgang Sachs über die ökologischen Kosten der Beschleunigung: „Ein ICE ist eine hochgradig gebündelte Gewalt, die die Menschen jederzeit verschlingen kann“

Wolfgang Sachs ist promovierter Theologe und Soziologe und arbeitet als Umweltwissenschaftler am Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie.

taz: Die Erfindung der Eisenbahn markiert die Schwelle zur Industriegesellschaft, und sie veränderte unser Verhältnis zur Geschwindigkeit. In welcher Weise?

Wolfgang Sachs: Ich glaube, mit der Ankunft der Eisenbahn gab es den wichtigsten Bruch in der Geschichte der menschlichen Fortbewegung. Es ist plötzlich möglich geworden, die organischen Grenzen des Menschen und der Tiere hinter sich zu lassen. Bis dato hatten ja Pferde oder Menschen mit ihrem Körper und dessen Kräften sich fortbewegen müssen, und Pferde und Menschen werden müde, sind verletzlich, sind erschöpflich. Mit der Eisenbahn gab es die energiebefeuerte Lokomotive und den Stahlstrang der Gleise. Beides zusammen hat es möglich gemacht, daß die Schwächlichkeit der Körper oder die Wellenförmigkeit der Landschaft keine große Rolle mehr spielte. Kurzum, das natürliche Maß des Körpers oder der Landschaft konnte man hinter sich lassen und mit dem mechanischen Maß und dem sich steigernden Maß der Geschwindigkeit, die durch Energie befeuert wird, übersteigern.

Somit wäre die Eisenbahn ein Sieg im menschlichen Kampf mit der Natur?

Einerseits ja. Es ist die Erfahrung, daß Grenzen etwas sind, was man hinter sich lassen kann.

Und der Preis?

Wenn wir auf das Unglück von Eschede schauen, ist mit dieser neuen Art der Technologie auch eine ganz neue Art von Katastrophe in die Welt gekommen – wie ja jede Technologie ihre eigene Katastrophe produziert. Hochgeschwindigkeit kann man nur erreichen, indem hochkonzentrierte Energien und Materialien verdichtet werden, um den Menschen aus seinem organischen Gewand herauszukatapultieren. Natürlich tut die Ingenieurkunst alles, um dieses Herauskatapultieren in eine bequeme Fassung zu bringen. Aber es passiert immer wieder, und es muß immer mal wieder passieren, daß diese Fassung platzt. Und dann ergießt sich die hochkonzentrierte Gewalt über Beteiligte und Unbeteiligte. Das ist bei der Eisenbahn so, beim Flugzeug, bei der Nukleartechnik und bei der Gentechnik.

Also ist es das menschliche Bedürfnis zu herrschen, das sich in der Katastrophe gegen ihre Schöpfer wendet.

Natürlich ist ein ICE eine ganz hochgradig gebündelte Gewalt. Und sobald die gebündelte Gewalt aus ihrer Form springt, verschlingt sie in derselben gewalttätigen Form jene, die daran beteiligt sind. Mit Technologien wie der Eisenbahn gelingt es ja, einen neuen Wahrnehmungsraum zu schaffen, in dem es uns wieder ganz normal und gemütlich zugeht. Selbst mit 200 Stundenkilometern unter dem Gesäß kann man gemütlich Zeitung lesen und Musik hören. Dieser Wahrnehmungsraum schafft Komfort bei darunterliegender Gewalt – die der Wahrnehmung verborgen bleibt. Um so schlimmer ist der Kontrast. Plötzlich wird dieser Wahrnehmungsraum wieder zerrissen, und man fällt zurück in die organische Welt, wo überorganische und übermenschliche Gewalt den Menschen als Körper zerreißt.

Man wird des Abstandes gewahr, der zwischen dem Zivilisationsraum vor Erfindung der Eisenbahn und dem 200-Kilometer- Tempo liegt.

Es ist der große Abstand zwischen den natürlichen Zeitmaßen, dem Maßstab der organischen Kräfte und den Zeitmaßen und Beschleunigungsraten, die wir domestiziert haben, indem wir fossile Energien unter unser Kommando geholt haben.

Gibt es denn diese natürlichen Zeitmaße wirklich? Technische Mittel zur Beschleunigung erfand man doch spätestens seit Erfindung des Rades.

Aber es waren keine energetisch-technischen Mittel. Also keine von der Antriebskraft her. Selbst Leonardo da Vinci dachte seine Bewegungsapparate immer noch ohne eine einheitliche Energiequelle. Die Unfälle, die mit den natürlichen Antriebskräften des Körpers oder des Windes möglich waren, waren demzufolge auch leichter absorbierbare Unfälle.

Bedeutet die Katastrophe der Geschwindigkeit somit, daß der Wunsch nach Grenzenlosigkeit der Beschleunigung auf die Grenzen der Natur trifft?

Unglücke nehmen in ihrem Gewicht und in ihrer Schwere proportional zur Geschwindigkeit zu. Man muß die Frage nach den Kosten für hohe Beschleunigung stellen. Wieviel Aufwand an Ressourcen sind wir bereit einzusetzen, um Minuten zu sparen. Wie weit wollen wir Europa umgestalten in eine Reihe von Haltepunkten für eine Hochgeschwindigkeits-Straßenbahn, wie sie ein europäisches Schnellbahnnetz wäre? Was bringt es uns für ein gutes Leben, mit diesen dichten Rhythmen zu leben? In solche Fragen eingebettet ist es in der Tat an der Zeit, Geschwindigkeit zu einer politischen Frage zu machen. Interview: Lutz Meier