Der Pillenboykott

In Frankreich ist die Abtreibungspille RU 486 recht populär. Bei jährlich 180.000 Abtreibungen wird sie rund 50.000mal eingesetzt. Trotz dieser Popularität hat der Chemiekonzern Hoechst Marion Roussel dem politischen Druck der Lebensschützer nachgegeben und das Patent der Pille verschenkt. Ein Bericht  ■ von Dorothea Hahn

Die Apothekerin senkt ihre Stimme und winkt die Kundin ganz nah an den Tresen heran. „Das ist sehr delikat“, sagt sie leise. „Es gibt ohnehin schon zuwenig Franzosen. Wenn wir jetzt auch noch diese Pille verkauften, würden wir bald ganz aussterben.“

Die Apothekerin im neunten Pariser Arrondissement gehört zweifellos zu den LebensschützerInnen und religiösen FundamentalistInnen, deren radikalste VertreterInnen sich in Frankreich regelmäßig vor und in gynäkologischen Kliniken anketten, Blut verspritzen und laut beten, um Patientinnen und medizinisches Personal unter Druck zu setzen. Ihre Aktionen zum „Schutz des menschlichen Lebens“, die andernorts nur auf chirurgische Abtreibungen konzentriert sind, attackieren in Frankreich auch die medikamentös eingeleitete Abtreibung. „Chemische Waffe gegen das Leben“ und „Todespille“ nennen sie das Medikament.

Anfang der achtziger Jahre fanden französische ForscherInnen ein Molekül, das das Hormon Progesteron blockiert und so das bereits in der Gebärmutter eingenistete befruchtete Ei austreibt. Das Molekül wurde nach dem französischen Pharmakonzern Roussel Uclaf getauft: RU 486. Der Volksmund nannte es umgehend „Abtreibungspille“, die Wissenschaft feierte es als „zweite Revolution nach der Anti-Baby-Pille“.

Die Abtreibungspille RU 486 funktioniert verblüffend einfach. Nachdem die Patientin drei dieser Pillen eingenommen hat, schluckt sie 48 Stunden später zusätzlich Prostaglandine, hormonähnliche Substanzen, die die Gebärmutter weiten. Kurz darauf setzt die Blutung ein. In den drei europäischen Ländern, in denen das Mittel zugelassen ist – in Frankreich seit 1989, in Großbritannien seit 1991 und in Schweden seit 1992 – darf es Frauen bis zum Ende der siebten Schwangerschaftswoche gegeben werden. Die Patientinnen müssen unter 35 Jahre alt und Nichtraucherinnen sein und dürfen keine Gefäßkrankheiten haben.

Die Prozedur einer medikamentösen Abtreibung mit RU 486 ist in diesen Ländern dem chirurgischen Eingriff gesetzlich gleichgestellt – Beratung und Bedenkzeiten inklusive. Doch in keinem der Länder wird die Pille in Apotheken verkauft. Sie ist nur Krankenhäusern zugänglich, wo sie auch verabreicht wird. Dort müssen die Frauen dann nach der Einnahme der Prostaglandine vier Stunden unter ärztlicher Kontrolle bleiben.

In Frankreich wird die Abtreibungspille bei insgesamt 180.000 Abtreibungen pro Jahr rund 50.000mal eingesetzt. ÄrztInnen, aber auch Patientinnen und Feministinnen schätzen sie sehr, denn in 98 Prozent aller Fälle führt sie zum gewünschten Erfolg, bei den restlichen zwei Prozent sind anschließend Ausschabungen nötig. Rund zwanzig Prozent der Patientinnen bekommen durch die Prostaglandine Bauchschmerzen. Weitere Komplikationen oder Nebenwirkungen sind nicht bekannt. „Der Einsatz der Abtreibungspille“, so eine Gynäkologin, „ist eine Banalität.“

Über den weltweit kolportierten Tod einer Frau im nordfranzösischen Lille, die Anfang der neunziger Jahre die Abtreibungspille eingenommen hatte, sagen ÄrztInnen und auch Feministinnen, daß es sich dabei um einen „schweren medizinischen Irrtum“ handelte. „Sie starb nicht an den Folgen der Abtreibungspille, sondern an den gespritzten Prostaglandinen mit dem Wirkstoff Sulprostone, der inzwischen vom Markt genommen wurde“, erklärt Etienne-Emile Baulieu, der Erfinder der RU 486.

Daß es die Abtreibungspille fast nirgends gibt, daß Produktion und Vertrieb von Anfang an ein Problem waren und daß auch die Forschung und Entwicklung von anderen medizinischen Anwendungen des Präparats blockiert werden, ist „ein politisches Problem“, sagt Regine Sitruk-Ware, Forschungsdirektorin der französischen Firma Exelgyn.

Diese Firma ist ein besonderes Konstrukt. Sie entstand allein zu dem Zweck, RU 486, die heute Mifegyne heißt, in Frankreich herzustellen und zu vertreiben. 1997 wollte Hoechst Marion Roussel die umstrittene Abtreibungspille unbedingt loswerden und übergab Exelgyn das Patent gratis. „Weil wir keine anderen Produkte anbieten, können wir auch nicht mit Boykott unter Druck gesetzt werden“, erklärt Sitruk-Ware.

Maya Surduts von der französischen Koordinierungsstelle für das Recht auf Verhütung und Abtreibung verlangt, daß Frauen grundsätzlich die Möglichkeit zur sanften Abtreibung haben müssen.

Noch ist das utopisch. Denn in den USA hat Hoechst Marion Roussel unter dem Druck der Lebensschützer 1994 sein Patent an den mittellosen staatlichen Population Council verschenkt. Und China produziert seit 1989 Raubkopien der RU 486. Das Geschäft machen fliegende Händler in Asien – sie verkaufen die „Chinese RU 486“ auf dem Schwarzmarkt.