■ 50 Jahre Garantie der Informations- und Meinungsfreiheit: Artikel 19, eine
: Absichtserklärung in eleganter Prosa

Er ist knapp, eindeutig und wunderbar vorausschauend: sogar das Internet ist durch Artikel 19 geschützt. Sein 50. Geburtstag sowie der aller anderen Artikel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung wird in diesem Jahr weltweit mit Festakten und Symposien gefeiert.

Sein deutliches Versprechen von „Informations- und Meinungsfreiheit“ liefert uns allen, die wir für die Meinungsfreiheit der Presse arbeiten, eine perfekte Vorlage. Wir retten uns in seine Universalität und erinnern Regierungen daran, daß auch sie zu den Unterzeichnern dieses weitreichenden Dokuments gehören. Europäische Anwälte der Presse- und Meinungsfreiheit umschiffen dabei gewandt die Aushöhlungen des Rechts, die durch ihre nationalen und regionalen Ausführungsbestimmungen geschaffen wurden. Und ihre US-amerikanischen Kollegen vermeiden ihrerseits jeden Hinweis auf die Kleinkriege um die first amendment in ihrem Land – während sie ansonsten sich selbst und alle anderen gerne daran erinnern, daß die Großmutter der Erklärung (Eleanor Roosevelt, Anm.d.Ü.) durch und durch amerikanische Internationalistin war. In den neu entstehenden Demokratien können Bürgerrechtler auf Artikel 19 als eine Art internationale Norm verweisen, der ihre Gesellschaft nun ethisch verpflichtet sei.

Ethisch ja – aber nicht gesetzlich. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist eine Absichtserklärung in eleganter Prosa. Die Regierungen allerdings, die sie damals unterzeichneten, hielten sie keinesfalls für gesetzlich bindend – sonst hätten sie wohl nicht im Traum an eine Unterschrift gedacht. Es war kein internationaler Gerichtshof vorgesehen, der unter Hinweis auf die Erklärung etwa Restriktionen hätte aufheben oder die Verstaatlichung von Sendern für illegal erklären können.

Lediglich eine Minderheit der Erstunterzeichner – nämlich die Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen – waren überhaupt demokratisch zu nennen. Und selbst Regierungen, die 1948 gewählt worden waren, beschränkten damals den Nachrichten- und Informationsfluß in ihren Ländern auf eine Weise, die wir heute nicht hinnehmen würden. So hätten weder die Länder des Ostblocks noch ihre westliche Gegenseite ihren Bürgern die direkte Kommunikation mit der anderen Seite „durch jedwedes Medium und ohne Anerkennung von Grenzen“ gestattet (Kurzwellenradios galten dabei als technologisch unausweichliche Ausnahme).

Vor 50 Jahren konnten in den USA Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens kritische Zeitungen jederzeit mit Rufmordprozessen drohen, und in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren vor allem die Organe des Kalten Krieges in den USA bei der Berichterstattung über Themen der „nationalen Sicherheit“ höchst vorsichtig. Erst als es 20 Jahre später zu dem berühmten Fall um die Pentagon-Papiere kam, wagten es amerikanische Zeitungen, Dokumente zu drucken, die offiziell als „Staatsgeheimnisse“ klassifiziert waren.

Auch nach einem halben Jahrhundert ist Artikel 19 noch eher Dichtung als Wahrheit. Anfang 1998 waren mindestens 129 Journalisten in 24 Ländern in Haft, einzig und allein wegen Ausübung ihres angeblich garantierten Rechts auf Pressefreiheit. Bezeichnenderweise wurden ihre Vergehen mit angeblich aufwieglerischer, revolutionärer oder konterrevolutionärer „Propaganda“ in Verbindung gebracht. Und es ging dabei keineswegs ausschließlich um Meinungsartikel, sondern auch um einfache Nachrichtentexte.

Hunderte von Schriftstellern, Künstlern und Dissidenten sitzen weltweit aufgrund ähnlicher Anklagen im Gefängnis. Und in den meisten Ländern beschränken die Regierungen den Nachrichtenfluß in beiden Richtungen.

Verfolgung und Zensur von Journalisten werden in der Regel unter Berufung auf den „anderen Artikel 19“ verteidigt. Dabei handelt es sich nicht um den oben beschriebenen Artikel 19 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948, sondern um Artikel 19 der Internationalen Konvention für bürgerliche und politische Rechte, kurz ICCPR.

Diese Konvention wurde 1966 unter der Schirmherrschaft der UNO entworfen und zehn Jahre später ratifiziert. Theoretisch wird sie von den Unterzeichnernationen als bindend akzeptiert – und deshalb sollte sie eigentlich für Meinungsfreiheitsaktivisten im Zentrum der Geburtstagsaktionen zur Menschenrechtserklärung stehen. Denn eben diese Konvention repräsentiert den multilateralen Verrat an der Menschenrechtserklärung.

Die ICCPR-Version von Artikel 19 bekräftigt zunächst das grundlegende Versprechen auf Presse- und Meinungsfreiheit – nur um es dann unter einer Lawine von Vorbehalten, Ausnahmeregelungen und Vorwänden für Regierungseinmischungen wieder zu begraben.

Das Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit „beinhaltet besondere Pflichten und Verantwortlichkeiten“, stellt die ICCPR fest, und kann „daher in bestimmten Fällen notwendigen gesetzlichen Einschränkungen unterworfen werden: (1) zur Achtung der Rechte und dem Ruf anderer; (2) zum Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung, oder aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und Sitten.“

Und als wäre das für zensurgewillte Autokraten noch kein ausreichender Schutz, fügt die ICCPR noch Artikel 20 zu, für den es in der Allgemeinen Erklärung keinerlei Vorbild gibt. Darin werden „jegliche Kriegspropaganda“ und „Befürwortung national, rassisch oder religiös begründeten Hasses, die als Aufforderung zur Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt verstanden werden kann“, für ungesetzlich erklärt.

Auf den ersten Blick scheinen solche Verbote vernünftig, denn wer wollte die Aufhetzung zu Völkermord und Terrorismus unterstützen? Sieht man jedoch genauer hin, wird klar, daß dieser locker formulierte Artikel in Wirklichkeit die öffentliche Diskussion kultureller und ethnischer Konflikte verbietet, die für das politische Leben vieler Nationen von zentraler Bedeutung sind. So wurde Artikel 20 etwa für das Verbot benutzt, aus offiziellen Stellungnahmen aufständischer oder separatistischer Bewegungen direkt zu zitieren (oder auch indirekt auf sie Bezug zu nehmen), selbst wenn diese Bewegungen nationale und internationale Anerkennung genießen.

Die ICCPR gestattet es der türkischen Regierung, die Berichterstattung über die kurdischen Autonomieforderungen zu unterdrücken; und sie gestattet es der chinesischen Regierung, jegliche öffentliche Pressedebatte über Tibet abzuwürgen. Indirekt sanktioniert die Konvention so tragikomische Zensurformen wie die der britischen Regierung gegen Gerry Adams, aber auch die überhaupt nicht komische Unterdrückung des Eintretens Ken Saro Wiwas für die Ogoni in Nigeria. Nach der ICCPR ist es durchaus legitim für die Milošević-Regierung, Nachrichten über die bewaffneten Aufstände der Kosovo-Albaner zu unterdrücken, ebenso wie es für Somoza vor 20 Jahren legitim war, Nachrichten über die sandinistischen Rebellen zu zensieren. Im Nahen Osten finden Netanjahu, Arafat, Hussein und Mubarak sichere Zuflucht unter der ICCPR, wenn sie die Berichterstattung ihrer Gegner einzuschränken versuchen.

Komplementär zum kastrierten Artikel 19 des ICCPR erlaubt auch Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention ähnlich weitgespannte Ausnahmeregelungen von der Pressefreiheitsgarantie. Zugleich ist Artikel 10 dabei, den neuen Demokratien der neunziger Jahre als neue gesetzliche Richtschnur für ihre Verfassungen zu dienen.

Das World Press Freedom Committee hat kürzlich ein aufschlußreiches Experiment durchgeführt. Es wies nach, daß Hunderte von Verletzungen der Pressefreiheit, die von der Organisation International Freedom of Expression Exchange kritisiert worden waren, nach Artikel 10 vor Gericht erfolgreich verteidigt werden könnten.

Ein Beamter der Europäischen Union bemängelte, daß fast alle angeführten Beispiele aus Ländern außerhalb Europas stammten und die Studie daher nicht als eine Kritik an der Europäischen Konvention gewertet werden könne. Der springende Punkt war ihm allerdings offenbar entgangen. Westeuropa wird zu Recht als vorbildlich demokratisch angesehen; doch eine enge Auslegung von Artikel 10 – wie auch von Artikel 19 der ICCPR – zeigt, daß Demokratien die Pressefreiheit ganz offensichtlich aus vielen unterschiedlichen Gründen beschränken dürfen. Es müßte schon eine selten beschränkte oder reichlich unkreative Regierung sein, die mithilfe der Artikel 19 oder 10 nicht den einen oder anderen Legitimierungsgrund für Zensur finden könnte.

Auf der Suche nach allgemein geltenden Normen und Garantien landen wir so am Ende wieder bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es ist also – strategisch wie ethisch – absolut vertretbar, restriktiven Regimen den ursprünglichen, unbeschnittenen Artikel 19 vorzuhalten. Jedenfalls habe ich beschlossen, es so zu halten, nachdem ich es schon in Hunderten entsprechender Briefe vom Committee to Protect Journalists getan habe. Aber wir müssen im Auge behalten, daß Artikel 19 noch immer lediglich einen Anspruch repräsentiert, ein Ideal, das zwar unbedingt allgemein anerkannt werden sollte, es aber eindeutig nicht wird.

Schriftstücke, bindend oder nicht, genügen nicht. Der ausschlaggebende Faktor für Presse- und Meinungsfreiheit ist das Zulassen abweichender Meinungen innerhalb der Kultur eines Landes. Diese Legitimität des Dissens kann nur durch innere, langsame und schmerzhafte Kämpfe vor Ort gewonnen werden, und nicht kraft eines externen Mandats.

Sehen wir uns die Geschichte des Britischen Commonwealth an. Unter den vielfältigen Vermächtnissen des britischen Kolonialismus finden sich einige der schlimmsten Pressegesetze der Welt: der Official Secrets Act (lebenslange Schweigepflicht für Staatsbeamte, Anm.d.Ü.), umfängliche Rufmord-Gesetze und weitreichende Gerichtskompetenzen für Unterlassungsklagen. Jeden Tag verwendet das Komitee zum Schutz von Journalisten viel Energie darauf, in Afrika, Asien und dem Nahen Osten die Hartnäckigkeit dieses Rechtserbes zu bekämpfen. Gleichzeitig verfügen ehemalige britische Kolonien aber auch über einige der unabhängigsten Nachrichtenmedienkulturen der Welt: Zum Beweis muß man sich nur einen beliebigen Zeitungskiosk in Neu-Delhi, Hongkong oder Lagos (ungeachtet Abacha) ansehen. Das mag daran liegen, daß eine untergründige Verachtung repressiver Gesetzesmaßnahmen Bestandteil der von den Briten hinterlassenen politischen Kultur war, ebenso wie die Überzeugung, daß man sich solchen Gesetze und den Menschen, die sie vertreten, offen widersetzen kann und sollte.

James Madison hatte recht: Das beste Pressegesetz ist kein Pressegesetz. Er formulierte die First Amendment zur Verfassung der Vereinigten Staaten in weiser Voraussicht als Verteidigungsinstrument für jeden Versuch in der Zukunft, die Presse- und Meinungsfreiheit gesetzlich zu beschränken. Doch erst als es der amerikanische Presse in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gelang – unter beträchtlichem Risiko, aber auch mit großer öffentlicher Unterstützung – die offiziellen Restriktionsversuche abzuwehren, wurde das Versprechen der First Amendment voll erfüllt.

Bis das Recht der Presse- und Meinungsfreiheit in den Verfassungen der ganzen Welt niedergelegt ist, werden wir in diesem Geiste den nunmehr 50 Jahre alten Artikel 19 als beste internationale Artikulation dessen zitieren, was jedem Amerikaner als im Gesetz verankertes, unverletzliches Recht zuerkannt ist. Diese Freiheiten sind jedoch letztlich nur von der schreibenden Zunft und ihren Lesern zu erreichen – und nicht durch Festakte zu goldenen Jubiläen oder durch Appelle an geheiligte Texte. Bill Orme

Bill Orme ist Direktor des in New York ansässigen „Committee to Protect Journalists“