■ Nebensachen aus Moskau: Flucht aufs Land in den russischen Morast
Der Frühsommer hat den Luftraum über Moskau erobert. Acht Monate Finsternis ziehen sich fluchtartig zum Sommerschlaf zurück. Die Stadt seufzt auf, und Millionen Moskauer schmeißen ihren Wagen an. Die Fahrt geht hinaus aufs Land, ins Sommerhaus, die Datscha. Abenteuerlich beladene Autos mit Latten, Stangen und Trögen schieben sich aus dem Moloch. Wir waren im August das letzte Mal draußen. Die Spannung wächst. Was mag wohl diesmal über den Winter den Besitzer gewechselt haben?
Übrigens verbringen auch die Jelzins in der Nachbarschaft mit den würdigeren Staatsgästen der G7 gelegentlich einen Kurzurlaub. Freilich, die Zufahrt zu ihrem Anwesen ist asphaltiert. Überflüssig zu sagen, nicht so bei uns. Die Dorfstraße steht einen halben Meter unter Wasser, gestrandete Autos säumen den von Traktorspuren zerfurchten Wegesrand. Ein neugieriger Anwohner hat Mühe, Schadenfreude zu verbergen. Es hilft nichts, das Dorf muß umfahren werden, im Schrittempo quer über den Acker, dessen Krume sanft nachgibt. Geschafft. Zurück auf dem Weg öffnet sich im Scheinwerferkegel träge ein glucksendes Moorloch. Mit majestätischer Gebärde macht es sich der Wagen darin bequem. Die letzten Meter legen wir zu Fuß zurück.
Nur das Einfahrtstor ist diesmal als Verlust zu melden. Ein glimpflicher Winter. Am nächsten Morgen versuche ich, den Wagen frei zu schaufeln. Ein Tor, wer einem Moor mit Spaten zu Leibe rückt! Baba Ljuba kommt unterdessen mit ihrer Ziege an der Kette des Weges, die sie zum Grasen jeden Morgen auf die Waldwiese führt. „So wird das nie was, mein Junge“, grummelt sie kopfschüttelnd. Und recht sollte sie behalten. Als sie nach einer Stunde zurückkehrt, bot sich ihr das gleiche Bild. „Ein Trecker muß her“, meint sie.
Wir suchen den Traktoristen Iwan Iwanowitsch. Doch schon an seiner Gartentür werden wir ernüchtert. Gattin Natascha keift lauthals los, wie kann man nur so unvorsichtig sein... Der Groll gilt eigentlich nicht dem Hilfesuchenden, vielmehr ihrem Iwan, der am Sonntag morgen schon wieder ins Schnapsglas gefallen ist. Also weiter zu Grigorij Petrowitsch, auch er ein Mechaniker und „Traktorist“ von der Kolchose.
Frau Galina ist eher ein sanfter, in sich gekehrter Typ. Sie bittet uns herein, doch ihre Leidensmiene erzählt die gleiche Geschichte. Auch der gute Grigorij, einst ein „ausgezeichneter“ Traktorist, hatte dem Lebenselixier beträchtlich zugesprochen und träumte den Traum der Glückseligen. Aus der Traum für uns, der nächste Traktor befindet sich meilenweit entfernt.
Baba Ljuba gehört zu den zähen und unbezwingbaren russischen Frauen vom Lande. Sie schmeißen alles. Aufgeben und verzagen? Von wegen! Die 69jährige krempelt ihre Ärmel hoch, greift zur Schaufel und legt los, als hantiere sie mit einem Löffel. Zwischendurch fragt sie verwundert: „Nie sowjetische Kriegsfilme gesehen? Alle Angreifer sind in unserem Morast steckengeblieben.“ Dennoch, der gute Wille bewirkt nichts. Ljuba und ihre alte Freundin schleppen schließlich zwei riesige Fußbodenbohlen aus einer verlassenen Kate an. Vorsichtig bugsieren wir sie unter das Hinterrad des auf Steinen wacklig aufgebockten Wagens. Die beiden Alten stemmen sich mit ganzer Kraft gegen den Kofferraum, und siehe da, nach drei Stunden Mühsal hat das Auto festen russischen Boden unter den Rädern.
Abends kommen Ljuba und Freundin zu Besuch und bringen ihre köstlichen Salzgurken mit. Es gibt Schaschlik und Chianti. Sie nippt am Glas, schüttelt sich innerlich, schweigt indes aus Höflichkeit. Erst nach hartnäckigem Bohren artikuliert sie ihr Unverständnis. „Das Leben ist bitter genug, warum dann trockenen Wein?“ Klaus-Helge Donath
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