Wer Rot-Grün will, kann diesmal auch SPD wählen

■ Mit ihren radikalen Forderungen haben sich die Bündnisgrünen isoliert – Wahlen gewinnt man damit nicht. Am Ende könnte eine rot-grüne Koalition in Bonn an den Grünen scheitern

Eine Wahlniederlage haben die Bündnisgrünen schon hinter sich: Seit dem Benzinpreisbeschluß auf dem Magdeburger Parteitag haben sich nach Meinungsumfragen drei bis vier Prozent der Grünen-Wähler der SPD zugewandt. Das ist ein Drittel der etwa zehn Prozent, die die Ökopartei durch gute Arbeit in den letzten Jahren an sich gebunden hatte. Jetzt kämpfen die Grünen gegen eine weitere Wahlniederlage. Dabei geht es darum, wenigstens sechs bis sieben Prozent der Wähler zu halten. Vorbei die Chance, mit einem Ergebnis von zehn Prozent das Tor von der Klein- zur mittelgroßen Partei aufzustoßen.

Dabei können die Grünen unverändert aus einem beachtlichen Wertpotential schöpfen. Der Anteil der Postmaterialisten liegt bei einem knappen Drittel der Gesamtbevölkerung. Ob die Grünen aus diesem Reservoir neue Anhänger rekrutieren können, liegt vor allem an drei Faktoren: der Agenda, dem Angebot der SPD und der eigenen Interventionsfähigkeit.

Während die SPD ihr Führungsproblem geklärt und ein positives Image als Partei des Machtwechsels aufgebaut hat, bieten die Grünen mit ihrem Rückfall in den Programmradikalismus nicht das, was man von einer Regierungspartei in Bonn erwartet. Mit ihrer Benzinpreisforderung und dem Bosnien- Beschluß haben sie sich weitestgehend isoliert. Erschreckt und entzaubert stellen sie nun fest, daß ihre ganze Selbstsicherheit von außen geschaffen worden war: von einer wohlwollenden Öffentlichkeit, die sich für einzelne Themen bei den Grünen nicht interessierte.

Eine rot-grüne Koalition in Bonn könnte am Ende an den Grünen scheitern. Die Bündnisgrünen sind die einzige Partei der Ökologie. Nur für diesen Bereich gibt es eine deutliche Kompetenzzurechnung. Dies ist ihr Markenzeichen. In Zeiten wirtschaftlicher Großthemen kommt alles darauf an, die Verbindungen zwischen Ökologie und Ökonomie sichtbar zu machen: Wie man etwa mit einer Ökosteuer die Arbeitslosigkeit im Lande verringern kann. Bündnis 90/Die Grünen werden nicht wegen irgendeines, sondern wegen eines ökologischen Konzepts gegen die Arbeitslosigkeit gewählt. Und sie werden dabei nicht etwa eine Partei der Arbeit, sondern sie bleiben die Partei der Umwelt.

Grüne gewinnen Wahlen nicht durch Radikalforderungen. Benzinpreis- und Bosnien-Beschluß waren solche, der „Sofortausstieg“ aus der Atomenergie könnte eine werden. Hinter solchen Radikalforderungen steht kein radikaler Wille, sondern eher der Spielcharakter einer Partei. Um den Ernstfall jedenfalls, eine Bundestagswahl oder gar eine Regierungsverantwortung, geht es dabei sicherlich nicht.

Die Wirkung solchen Radikalismus ist paradox: Mit gemäßigteren Forderungen läßt sich mehr durchsetzen, schließlich bringen diese mehr Wähler. Und je mehr Mandate man hat, desto mehr Einfluß hat man bei der Koalitionsbildung – unabhängig von den Forderungen im Programm.

Eins ist schon Monate vor der Bundestagswahl klar: Der SPD geht es heute besser, den Grünen schlechter – so kommunizieren die Röhren. Der alte Slogan: „Wer Rot-Grün will, muß Grün wählen“, greift diesmal nicht. Wer Rot- Grün will, kann diesmal auch SPD wählen. Den SPD-Gremien gilt eine rot-grüne Koalition als erste Präferenz.

Wer vor allem das Ende der Ära Kohl will, mag Gründe für Schröder finden. Der würde als Kanzler einer rot-grünen wie auch einer Großen Koalition Helmut Kohl aufs Altenteil schicken. Eine Stimme für Schröder ist also ein direktes Votum gegen Kohl, geht aber auch für Rot-Grün nicht verloren. Eine Stimme für die Grünen dagegen ist für Rot-Grün nicht zwingend, und sie kann verschenkt sein, wenn es um die Ablösung von Kohl geht.

Die heutige Führungsmannschaft der SPD, in der – fast ohne Verdienst der Partei – jeder an seinen richtigen Platz gelangt ist, kann für Teile der grünen Wählerschaft attraktiv sein: Gerhard Schröder verkörpert den Willen zum Machtwechsel und verheißt das Ende der Ära Kohl, Oskar Lafontaine den sozialdemokratisch gemäßigten Einstieg in die ökologische Modernisierung. Helfen mögen in der Wahlkrise der Grünen vier Kampagnen: eine Anti- AKW-Kampagne (Ausstieg „so schnell wie möglich“), eine Kampagne gegen die Große Koalition, eine Zweitstimmen-Kampagne für Rot-Grün (Motto „Erststimme SPD, Zweitstimme Bündnis 90/Die Grünen“) und eine Fischer- Kampagne, die den grünen Willen zum Machtwechsel symbolisiert. Gut wäre die Vorbereitung einer Sterbeglöckchen- Kampagne, falls die Grünen am 13.9 aus dem Bayerischen Landtag fliegen. Joachim Raschke

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaften an der Uni Hamburg. Von ihm erschien unter anderem: „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind“ (1993, Bund-Verlag).