"Mehr Deutsche im Wrangelkiez wären gut"

■ Die Gegend rund um die Wrangelstraße in Kreuzberg ist in Verruf geraten und mit ihr auch die dort lebenden Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft. Ein Gespräch mit zwei von ihnen über den Alltag im K

Zunehmende Aggressivität, steigende Gewalt und der hohe Anteil nichtdeutscher KiezbewohnerInnen im Wrangelkiez ist nicht nur für CDU-Hardliner und Polizei ein Thema. Auch Linksalternative klagen darüber und ziehen weg. Gestern beschrieb die taz diese Situation im Kiez, heute kommen diejenigen zu Wort, über die häufig nur geredet oder geschrieben wird: türkische und kurdische Jugendliche.

taz: Der Wrangelkiez hat nicht gerade den besten Ruf. Fühlt ihr euch wohl hier?

Ercan: Ich bin im Wrangelkiez geboren und mag es hier. Wenn ich in andere Bezirke gehe, zum Beispiel nach Friedenau, dann merke ich, daß es da viel weniger Ausländer gibt. Wenn ich dann wieder am Halleschen Tor ankomme, habe ich das Gefühl, daß ich wieder zu Hause bin. Die Atmosphäre gefällt mir hier besser.

Was macht diese Atmosphäre denn genau aus? Was gefällt dir daran?

Ercan: Wenn wir am Obstladen vorbeikommen, dann stecken wir einen Apfel ein. Das ist typisch türkisch. Wenn hier ein Türke auf die Straße spuckt, dann macht mich das nicht glücklich, aber dann ist das halt so. Außerhalb von Kreuzberg spuckt keiner auf den Boden, da ist es sauber.

Birgül: Na ja, ein bißchen verallgemeinert ist das schon. Findest du nicht?

Ercan: Kreuzberg ist eben eine Welt für sich. Wenn man türkisch erzogen wird und die Sprache beherrscht, dann kommt man hier vollkommen klar. Jeder redet mit jedem, jeder kann sich verständigen.

Das trifft aber nur auf Türken zu.

Ercan: Natürlich meine ich die Türken. Wir kommen hier ohne Deutsch klar.

Fändet ihr es gut, wenn mehr Deutsche im Wrangelkiez leben würden?

Birgül: Einerseits finde ich gut, daß hier fast nur Türken wohnen und daß es hier so viele türkische Geschäfte gibt. Andererseits wäre es auch gut, wenn hier mehr Deutsche wären. Es ist kein Zufall, daß so viele Ausländer in Kreuzberg gelandet sind. Man hat hier so eine Art Ghetto geschaffen, unsere Eltern mußten sich deshalb gar nicht bemühen, Deutsch zu lernen, besonders unsere Mütter nicht. Wir haben zu Hause, auf der Straße und in der Schule türkisch gesprochen, da ist es klar, daß wir uns nicht richtig entwickeln konnten.

Wann hast du Probleme bekommen?

Birgül: Als ich in die Grundschule gekommen bin, habe ich gemerkt, daß ich gar nicht richtig Deutsch sprechen kann. Das war auch noch auf der Hauptschule so. Ich konnte mich zwar verständigen, aber so richtig gut war das nicht. Das lag daran, daß ich in Kreuzberg in der Grundschule in einer Klasse war, wo 26 Schüler Türken waren. Das war katastrophal. Damals hat uns unser Lehrer gezwungen, 20 Pfennig in die Klassenkasse zu zahlen, wenn wir türkisch gesprochen haben. Damals fand ich das blöd, aber heute verstehe ich, warum er das gemacht hat.

Wie alt wart ihr, als ihr Deutsch gelernt habt?

Ercan: Ich war weder im Kindergarten noch in der Vorschule, und als ich mit sechs in die Schule kam, konnte ich kein Wort Deutsch. Denen, die im Kindergarten Deutsch gelernt hatten, hing ich natürlich drei Jahre hinterher. Das hat sich dann besonders in der Oberschule bemerkbar gemacht, wo ich dann zwischen Deutschen und Türken war. Das möchte ich niemandem zumuten.

Birgül: Es ist schade, daß wir keine Sprache richtig beherrschen. Wenn man eine nicht richtig kann, kann man auch die andere nicht richtig gut lernen. Wir beide können uns sehr gut verständigen, aber in der Türkei habe ich gemerkt, daß auch mein Türkisch nicht richtig gut ist.

Hattet ihr denn zu deutschen Kindern Kontakt? Seid ihr heute mit Deutschen befreundet?

Ercan: Klar, ich habe deutsche Freunde und guten Kontakt zu Deutschen überhaupt. In den Beziehungen macht es keinen Unterschied mehr, daß ich Türke und die Deutsche sind. Aber trotzdem habe ich insgesamt mehr türkische Freunde.

Birgül: Ich war erst einmal mit einer Deutschen befreundet, und ich bin immerhin schon 17. Das ist blöd. Aber wenn ich auf die Straße gehe, dann sind da einfach nur türkische Mädchen...

Das haben eure Eltern euch ja auch nicht gerade leichtgemacht. Würdet ihr eure Kinder anders erziehen?

Ercan: Ich würde die Aufteilung in „die“ und „wir“ abschaffen. Aber wenn ich weiter im Kiez lebe und auf der Straße nur Türken sind, dann wird sich daran nichts ändern.

Wollt ihr also aus dem Wrangelkiez weg?

Birgül: Ich würde sogar wegen meiner Kinder in eine andere westdeutsche Großstadt ziehen. Das wäre ein noch größerer Schnitt, ganz anders als Neukölln oder Schöneberg, da ist doch mittlerweile alles gleich.

Ercan: Ich will auch hier wegziehen. Integration ist hier im Kiez nicht möglich, weil es nur Türken gibt. Das Wohngebiet müßte ein gesundes Verhältnis haben, fünfzig Prozent Türken, fünzig Prozent Deutsche. Vielleicht wäre es sogar da noch besser, wo fast nur Deutsche wohnen. Ich fühle mich weder als Türke noch als Deutscher. Über so etwas sollte auch man gar nicht nachdenken, wenn man in einer multikulturellen Gesellschaft lebt.

Aber das, was ihr beschrieben habt, ist doch keine multikulturelle Gesellschaft.

Birgül: Stimmt, der Wrangelkiez ist nicht multikulturell. Hier gibt es viele Türken und ein paar Deutsche. Und die haben gar nichts miteinander zu tun.

Ercan: Die gesunde Mischung fehlt eben.

Das sagt auch die CDU, und einige ihrer Politiker fordern eine Zuzugssperre für Ausländer für bestimmte Bezirke.

Ercan: Wie die CDU darüber redet, ist es provokativ. Es geht eher darum, den Leuten klarzumachen, daß man miteinander leben kann. Durch Verbote und Bestimmungen erreicht man nichts. Man muß es den Leuten anerziehen.

Aus dem Wrangelkiez hört man immer häufiger von zunehmender Gewaltbereitschaft und Brutalität. Habt ihr damit Erfahrungen gemacht?

Ercan: Das war früher, als es noch Gangs wie die 36'Boys gab, viel schlimmer, aber die haben sich aufgelöst. Klar gibt es Rangeleinen, Streitigkeiten, aber daß sie mit Messer und Pistolen aufeinander losgehen, das hat sich sehr gelegt. Und daß man früher mit dem Pitbull durch die Gegend gelaufen ist, hat auch seit zwei Jahren abgenommen.

Birgül: Wenn etwas passiert, dann ist das meist Anmache untereinander. Nichts Radikales, sondern Kindersachen, Privatkram. Ich bin hier noch nie angemacht, abgezogen oder mit einem Messer bedroht worden.

Ercan: Auch das systematische Vorgehen beim Autoknacken zum Beispiel, ich knack' die Autos auf der westlichen und du auf der östlichen Seite, so was gibt es nicht mehr. Als es die 36'Boys noch gab, da wurde das organisiert durchgezogen. Aber ich höre auch immer wieder von meinen Freunden, daß jetzt auch noch Autos aufgebrochen werden.

Was ist bei denen anders gelaufen als bei euch ?

Ercan: Ich bin beschäftigt. Wenn ich mit denen rede, dann sagen sie, du hast ja auch was zu tun. Du stehst morgens auf, du gehst in die Schule, du hast Hausaufgaben. Wenn die morgens aufstehen, ziehen sie los, aber Geld haben sie nicht.

Birgül: Aber wer weiß schon, ob wir nicht mal so werden, wenn wir keinen Ausbildungsplatz bekommen. Das liegt doch nicht an uns, sondern es ist die Gesellschaft, die das macht. Und die Eltern können irgendwann dann auch nicht mehr helfen.

Stört dich das Machogehabe, das die Jungs auf der Straße an den Tag legen?

Birgül: Bedroht fühle ich mich nicht, aber angemacht werden wir schon. Die Art ist total übel. Dieses brutale Gehabe kommt aus der Kultur, aus der Mentalität. Die Brutalität ist bei den meisten so, das muß ich ehrlich sagen. Das kommt von der Erziehung, wo der Junge absolut bevorzugt wird. Dadurch lernen sie, daß sie angeblich besser als die Mädchen sind. Das liegt wohl daran, daß viele Familien immer noch Angst haben, daß sie hier ihre Kultur verlieren. Sie denken immer noch wie vor 20 Jahren, obwohl viele sogar in der Türkei inzwischen fortschrittlicher sind. Die Jungs können mit ihren Vätern nicht richtig sprechen, da fehlt die zwischenmenschliche Beziehung. Da ist eine Wand zwischen ihnen.

Und was sagst du dazu, Ercan?

Ercan: Ich zähle mich nicht zu diesen Jugendlichen. Man wird aber auf der Straße auch akzeptiert, wenn man anders rumläuft, ohne gegelte Haare und Goldkettchen.

Wissen die Eltern eigentlich, was ihre Kids so treiben?

Birgül: Die Eltern kriegen vieles nicht mit. Das liegt auch daran, daß in den letzten Jahren hier überhaupt nichts mehr los ist. Heute sind alle viel mehr auf der Straße als früher. Als ich zehn, elf Jahre alt war, habe ich zum Beispiel Theater gespielt. Wenn man auch nur ein bißchen sozial aktiv ist, kann man sich gut von den schlechten Sachen ablenken, da kann man auch andere Menschen kennenlernen.

Welche Rolle spielt die Religion?

Birgül: Der Fundamentalismus ist eine Modeerscheinung, genauso wie der Nationalismus gerade total angesagt ist. Zum Beispiel mit Fahnen rumzulaufen. Ich habe damit echt Probleme und mich deshalb auf dem Schulhof auch schon geschlagen.

Ercan: Die Religion ist eine Mobilmachung. Genauso funktioniert der Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern. Als der Nationalismus hochkam, hat man das auch gemerkt. Da liefen viele mit einem grauen Wolf als Kette herum. Da hatten sie auf einmal ein Ziel. Und beim Fundamentalismus ist das genau das gleiche.

Das Gespräch führten

Julia Naumann und

Sabine am Orde