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Schwierigkeiten mit dem Erinnern

■ In ihrem Buch über die polnischen Internierungslager für „Volksdeutsche“ nach 1945 erweist sich Helga Hirsch als Nonkonformistin. Kritik fordert allerdings ihre Methode der Darstellung heraus

Wir alle wollen wissen, was und wie es passiert ist, wie Geschichte sich wirklich zugetragen hat. Wenn diese Wirklichkeit uns allerdings nicht paßt, gibt es Prügel für den Autor, bestenfalls pikiertes Schweigen. Helga Hirsch, Journalistin und seit vielen Jahren sachverständig für Polen und Osteuropa, ist mit ihrem Buch „Die Rache der Opfer“ prädestiniert für die Rache der Rezensenten.

Sie schreibt über das Schicksal von Menschen, zumeist Frauen, die 1945 in polnischen Lagern interniert wurden und dort Schreckliches durchlitten – und zwar auch von Tätern, die vorher Opfer der nazistischen Okkupation gewesen waren. Für die Toten wie für die Überlebenden dieser Lager fordert sie Gerechtigkeit. Das ist zuviel. Den Linken zuviel Verständnis für die Opfer. Sie wittern eine Relativierung der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Den Rechten zuviel Verständnis für die Polen. Sie wollen nicht wahrhaben, daß es ein Verhältnis von Ursache und Wirkung gibt. Für sie existiert die Zeit der deutschen Verbrechen von 1939 bis 1945 einfach nicht, wohl aber für Hirsch. Zuviel für politische Pragmatiker, die stets nur in die lichte Zukunft sehen wollen. Und zuviel für viele Zeitgenossen in Polen, die ihr Land als ewig unbeflecktes Opfer begreifen. Einfach zu viel.

Das Buch handelt im wesentlichen von zwei großen Internierungslagern, nämlich Potulice in der Nähe von Bydgoszcz (Bromberg) und Świentochlowice in der Nähe von Auschwitz. Das eine war ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager, das andere ein Außenlager des KZ Auschwitz gewesen. In beiden Lagern saßen mehrheitlich Polen deutscher Abstammung, die vor 1939 polnische Staatsbürger gewesen waren, sich aber nach der deutschen Okkupation für Nazi- Deutschland entschieden, d.h. um Aufnahme in die „Volksliste“ ersucht hatten. Der Eintrag in diese Liste und die Kategorisierung der Aufgenommenen war, wie Hirsch zeigt, von Region zu Region völlig unterschiedlich. Im ehemals polnischen Oberschlesien beispielsweise wurde offensiv germanisiert, in „Westpreußen“ und im „Warthegau“ zeigten sich die Prüfungsbehörden zurückhaltender. Abgelehnt zu werden war noch lange kein Beweis von polnischem Patriotismus. Die Internierungen erfolgten willkürlich unter denen, die nicht hatten flüchten wollen oder können. Nach individueller Schuld wurde nicht gefragt. Selbst Kinder traf es, wenn sie verdächtigt wurden, im Nazi-Jungvolk oder in der HJ organisiert gewesen zu sein.

Indem sie einzelne Schicksale verfolgt, rekonstruiert Helga Hirsch ein bedrückendes Bild des Alltagslebens im Lager, der Zwangsarbeit, der Unterernährung, der immerwährenden Prügel. Sie macht Sadisten namhaft, aber auch Angehörige des Wachpersonals, die die Würde der Internierten achteten. Hirsch beklagt zu Recht, daß die polnischen Verantwortlichen das Archivmaterial, wenn überhaupt, nur selektiv öffneten, und sie macht klar, daß viele wichtige Fragen noch nicht beantwortet werden können. Immerhin herrscht jetzt Klarheit über die (hohe) Sterbeziffer.

Hirschs Stärke, ihr biographischer Zugang, wird freilich auch zur Hauptschwäche des Buches. Sie webt die Aussagen der Interviews in den Text ein wie eine Geschichtenerzählerin. Nur in wenigen Fällen werden sie auf ihre Konsistenz überprüft, werden sie konfrontiert – sei es mit Interviews bzw. Stellungnahmen der „anderen Seite“, sei es mit zeitgenössischem Quellenmaterial.

Trotz einer ausführlichen Darlegung des „Nationalitätenkampfes“ in Bydgość vor dem deutschen Überfall bleibt die Geschichte der deutschen Minderheit im neuen Polen als Hintergrund seltsam unterbelichtet. Schade, daß Hirsch die beiden dickleibigen Dokumentenbände, die Rudolf Jaworski und Marian Wojciechowski 1997 herausgaben, nicht mehr heranziehen konnte. Die Dokumente beweisen, wie sich der Nationalismus und die Nationalitätenpolitik beider Seiten gegenseitig aufschaukelten.

Kritik fordert auch Hirschs Schlußkapitel über die Geschichte der „Oder-Neiße-Linie“ heraus. Natürlich gab es in den polnischen Teilungsgebieten und später in der wiedererstarkten Republik starke nationalistische Kräfte, die für die „piastische Lösung“, d.h. die Annexion von Schlesien, Pommern und Ostpreußen, die Trommel rührten. Ist es aber richtig, zwischen diesen Positionen und der Haltung der polnischen Exilregierung zur künftigen Westgrenze ein Gleichheitszeichen zu setzen, wie Hirsch es tut? Den Verantwortlichen in London war früh bewußt, daß sie von Stalin in ein Kompensationsgeschäft gezwungen werden sollten: die polnischen Ostgebiete an die Sowjetunion, die vormaligen deutschen Ostgebiete an Polen. Daher ihr Zögern, ihre gemäßigteren territorialen Ansprüche, die sie freilich mit der Forderung nach einem Bevölkerungstransfer verbanden. Diese Forderung muß man unbedingt vor der damaligen polnischen Überzeugung sehen, daß ein künftiges Zusammenleben mit Deutschen in einem Staatsverband nach der deutschen Okkupation undenkbar sei.

Helga Hirsch möchte in ihrem Buch für die Verfolgten und Gedemütigten eintreten, auch wenn sie „auf der falschen Seite“ gestanden hatten. Sie verfällt nicht in den Fehler vieler ehemaliger Opfer, nur das Leid der „eigenen Seite“ herauszustreichen. Hirsch gehört der 68er Generation an. Ihr Buch versteht sie als Ergebnis eines Lernprozesses. Auch wenn das anklägerische Pathos zuweilen auf die Nerven geht – auch das macht ihre Arbeit zur nützlichen Lektüre. Christian Semler

Helga Hirsch: „Die Rache der Opfer. Deutsche in polnischen Lagern 1944–50“. Rowohlt Berlin, 1998, 224 Seiten, 32 DM

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