Giftgas aus den eigenen Reihen

Recherchen von US-Medien enthüllen: Das US-Militär soll im Vietnamkrieg das Nervengas Sarin eingesetzt haben – darunter auch bei einer Mission gegen Deserteure, die sich nach Laos abgesetzt hatten  ■ Von Bernd Pickert

Berlin (taz) – Über zwanzig Jahre nach dem Ende des Vietnamkrieges sind noch immer nicht alle Einzelheiten dieses größten und umstrittensten US-Militäreinsatzes nach Ende des Zweiten Weltkrieges bekannt. Das Rechercheteam der Sendung „NewsStand: CNN & Time“ des US- Fernsehsenders CNN hat nun gleich zwei Skandale im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg aufgedeckt: Die USA sollen das Nervengas Sarin eingesetzt haben, das 1995 bei den Sekten-Anschlägen in der Tokioter U-Bahn verwandt wurde. Und sie sollen Deserteure aus den eigenen Reihen ohne jedes Kriegsgericht verfolgt und umgebracht haben.

Acht Monate lang haben die Starreporter Peter Arnett und Aril Oliver recherchiert, über 200 Interviews haben sie geführt. Ergebnis: Rund 20mal haben die USA im Vietnamkrieg Nervengas eingesetzt, um eigene Leute aus dem Kriegsgebiet herauszubringen.

Ein besonders perfider Einsatz konnte aufgrund der Aussagen von Beteiligten recht genau rekonstruiert werden. Es war im September 1970: Eine verdeckt operierende US-Spezialeinheit der SOG, der sogenannten Studies and Observation Group, die es offiziell überhaupt nicht gab, befand sich rund 60 Meilen innerhalb des Staatsgebietes von Laos, wo sie offiziell überhaupt nicht sein durfte. Sie suchte US-Deserteure, die es offiziell erst recht nicht gab – um sie umzubringen. Robert Van Buskirk, der damals 26jährige Leutnant und Anführer der Einheit, sagt: „Mein Befehl war, alles zu töten, was lebt, Sauerstoff atmet, uriniert oder Stuhlgang hat.“

Aufklärer hatten in dem laotischen Dorf weiße GIs entdeckt, die sich offensichtlich frei dort bewegen konnten, also Deserteure sein mußten. Die SOG-Einheit von 16 Mann, unterstützt durch 140 einheimische Söldner, wurde am 11. September per Hubschrauber in die Nähe des anzugreifenden Dorfes gebracht und sah sich von Anfang an unter schwerem Feuer. Als das Dorf nach dreitägigen Kämpfen erreicht war, waren fast alle Soldaten der Einheit verletzt. „Wir glaubten, da nie wieder rauskommen zu können“, sagt ein Teilnehmer.

Doch beim Sturm auf das Dorf selbst schlug den Angreifern nur minimaler Widerstand entgegen – „längst nicht so, wie wir es angesichts der Anzahl von Leuten dort erwartet hatten“, sagt Craig Schmidt, der damals in Van Buskirks Einheit kämpfte. Das Dorf war, so die CNN-Recherche, bereits am Abend vorher aus der Luft mit Giftgas bombardiert worden. Die siegreichen Soldaten fanden über einhundert Leichen – darunter, so Van Buskirk „ein Dutzend, fünfzehn, vielleicht zwanzig“ US- Amerikaner, „Rundaugen“, wie sie im Unterschied zu den „Schlitzaugen“ genannt werden.

Als sich die SOG-Einheit zurückzog, um ein Reisfeld zu erreichen, wo sie von US-Hubschraubern aufgenommen werden sollte, geriet sie erneut in Gefahr, von heranrückenden feindlichen Truppen abgeschnitten zu werden. Aus der Luft kam der Befehl, die funny faces aufzusetzen, die Gasmasken. Zwei A-1-Bomber warfen die Gasbomben direkt auf die gegnerischen Reihen – ein Volltreffer. Die GIs sahen, wie ein Nebel die vietnamesischen Soldaten umgab, sie zu Boden warf, wie sie zuckten und sich übergaben.

„Alles klebte. Wir krempelten die Ärmel herunter, um uns so gut wie möglich zu schützen“, erinnert sich Craig Schmidt. Aber einige der Gasmasken nahmen in den viertägigen Kämpfen Schaden oder waren den Soldaten zu groß – eine Reihe von ihnen hat bis heute mit den Folgen des damaligen Einsatzes zu kämpfen. Mike Hagen etwa, damals Sergeant: „Die Regierung wollte nicht, daß man es Gas nannte. Sie wollte, daß man es ,Mittel zum Kampfunfähigmachen‘ nennt oder so.“ Er leidet heute unter einer fortschreitenden Lähmung der Gliedmaßen – sein Arzt bestätigt, daß es sich dabei eindeutig um die Folgen von Nervengas handelt.

Als die US-Soldaten im Hubschrauber saßen, suchte Van Buskirk mit einem Maschinengewehr den Boden nach Zielen ab: „Alles, was ich sehe, sind Leichen. Sie kämpfen nicht mehr. Sie liegen nur herum, manche auf der Seite, andere auf dem Rücken. Sie sind keine Kämpfer mehr.“ Van Buskirk wurde später für seinen Einsatz geehrt.

Der Einsatz von Sarin-Gas während des Vietnamkrieges war bislang nicht bekannt – schon gar nicht gegen Deserteure aus den eigenen Reihen. Das aber sei notwendig gewesen, rechtfertigt General John Singlaub – damals ein SOG-Kommandant, später ein Söldnerführer – gegenüber CNN: „Es kann für dein Überleben wichtiger sein, die Deserteure zu töten als die Vietnamesen oder Russen.“ Denn deren Wissen über US- Kommunikation und Taktik könne großen Schaden anrichten.

Wie viele Deserteure es gab, ist unbekannt. Ein SOG-Veteran sagte CNN, es habe „mehr Deserteure gegeben, als die Leute so glauben“. Admiral Moorer deutet an, darüber sei durchaus auch Buch geführt worden. Dennoch: Während SOG-Veteranen von bis zu 300 Deserteuren ausgehen, spricht das Pentagon offiziell von lediglich zwei bekannten Fällen.

Daß das Nervengas Sarin zur Ausstattung der US-Armee gehörte, war bekannt. Jeder Einsatz des Gases zur Rettung eigener Soldaten, sagt der damals dem Generalstab angehörende Admiral i.R. Thomas Moorer, mußte von Präsident Richard Nixons Sicherheitsstab in Washington genehmigt werden. Moorer rechtfertigt den Einsatz: Er hätte, sagt er, alles getan, um US-Soldaten heil nach Hause zu bringen. Nur vertrat die Nixon-Regierung damals offiziell die Position, niemals als erste Seite Kampfgas einzusetzen.

Eine offizielle Stellungnahme der US-Regierung zu den Recherchen von CNN und Time gibt es bislang nicht.