piwik no script img

Wenn die Tränenströme fließen...

Die krummen Beine Garrinchas, die feiste Visage des triumphierenden Mussolini, Zamoras Mütze, der dicke Hintern des Gerd Müller, die Eleganz eines Franz Beckenbauer, drittes Tor, Hand Gottes, das Lächeln des unvergleichlichen Pelé – Impressionen aus einer 68 Jahre umspannenden Geschichte der Fußball-WM, der ab heute ein neues Kapitel hinzugefügt wird. Zeit für ein kleine Rückschau.  ■ Von Matti Lieske

Uruguay 1930

Die erste Fußballweltmeisterschaft wird weltweit als abenteuerliches Projekt betrachtet. Europas Kicker fürchten Seekrankheit mehr, als daß sie nach sportlichem Ruhm trachten. Nur die Mannschaften aus Frankreich, Belgien, Rumänien und Jugoslawien wagen die Reise über den Ozean zum Rio de la Plata. Weltmeister werden die Gastgeber, die über eine der besten Mannschaften verfügen, die der Weltfußball je gesehen hat. Herzstück des Teams ist der elegante und dynamische Läufer José Andrade, der von Beruf Tänzer ist und mit seiner Combo „Die armen kubanischen Neger“ in Nachtklubs auftritt. Das Interesse an der WM ist auch in Montevideo sehr wechselhaft. Das Finale, welches Uruguay gegen Argentinien mit 4:2 gewinnt, sehen 100.000 Zuschauer, die Vorrundenpartie Chile-Mexiko 500.

Italien 1934

Das Turnier wird von Italiens Faschisten zur reinsten Mussolini- Show gestaltet und geht als eines der skandalösesten überhaupt in die Geschichte ein. Die Heimmannschaft wird von den Schiedsrichtern schamlos begünstigt und holzt sich auf brutalste Weise zum Titel. Die beeindruckendste Figur des Turniers ist ein Torwart: Spaniens Ricardo Zamora, der gegen Italien die unmöglichsten Bälle hält, aber so grob gefoult wird, daß er im Wiederholungsspiel nicht antreten kann. Italien siegt 1:0.

Frankreich 1938

Vier Jahre nach dem skandalösen WM-Erfolg von 1934 zeigen die Italiener, das sie Fußball spielen können. Im Finale lassen Meazza, Piola und Co. den Ungarn kein Chance und gewinnen 4:2. Allerdings profitieren sie von der Überheblichkeit der Brasilianer, die im Hochgefühl ihrer vermeintlichen Überlegenheit beim Halbfinale gegen Italien ihren leicht verletzten Torjäger Leonidas pausieren lassen, um ihn für das Endspiel zu schonen. Sie verlieren mit 1:2. Schon in der Vorrunde scheidet das deutsche Team, erstmals von Sepp Herberger betreut, zum Entsetzen der Nazimachthaber gegen die Schweiz aus. Unumschränkter Star des Turniers ist Leonidas, der in drei Spielen sieben Tore schießt, allesamt spektakulär und zum Teil barfuß.

Brasilien 1950

Football's coming home, und zwar schneller als erwartet. Englands erstmals angetretenes Dream Team verliert schon sein zweites WM-Spiel mit 0:1 gegen die USA, wohl bis heute das schockierendste Sportresultat aller Zeiten. In Brasilien zweifelt niemand daran, daß nur das eigene Team Champion werden kann. Um so größer ist das Entsetzen, als Ghiggia elf Minuten vor Schluß das 2:1 für Uruguay erzielt. Das brodelnde Maracaná- Stadion erstarrt, mit bangem Schweigen verfolgen die 200.000 Zuschauer die vergeblichen Bemühungen der Brasilianer, doch noch den Ausgleich zu erzielen, dann beginnen im Stadion und im ganzen Land die Tränenströme zu fließen.

Schweiz 1954

Nie wird die Welt mit letzter Gewißheit erfahren, ob Sepp Herberger nicht doch glaubte, daß die Vorrundenelf gegen Ungarn seine Bestbesetzung war – bis sie 3:8 verloren hatte. Und niemand wird erfahren, ob die Ungarn tatsächlich so blöd waren, sich von diesem Sieg täuschen zu lassen. Der Rest ist Geschichte. Das wichtigste Tor schießt zwar Helmut Rahn, aber die besten Spieler des Turniers stehen in den Reihen der Ungarn: die Stürmer Ferenc Puskas und vor allem Sandor Kocsis, der es auf elf Tore in sechs Spielen bringt.

Schweden 1958

Auch nach dem Endspiel von Stockholm wird geweint in Brasilien, diesmal aber vor Freude. Am herzzerreißendsten läßt ein 17jähriger die Tränen fließen, der binnen zwei Wochen zum Inbegriff des brasilianischen Fußballs wird: Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé. Die Brasilianer von 1958 sind für lange Zeit die letzte Mannschaft, die den WM-Titel mit bedingungslosem Offensivfußball gewinnt, der Angriff mit Zagalo, Didi, Pele, Vavá und Garrincha ist das Beste, was der Weltfußball jemals gesehen hat. In schlechtem Stil verabschiedet sich der Champion von seinem Titel. Von Anfang an zetert die deutsche Delegation über angeblich miserable Bedingungen in Schweden, und nach dem Untergang im Halbfinale gegen die Gastgeber gibt es eine perfide Hetzkampagne in der deutschen Boulevardpresse. Rekordträchtige 13 Tore schießt der Franzose Just Fontaine.

Chile 1962

Im erdbebenzerstörten Chile findet eine WM statt, die sogar noch das faschistische Festival von 1934 an Häßlichkeit übertrifft. Unfähige Schiedsrichter lassen unzählige Fouls zu, Höhepunkt ist die Partie Chile-Italien, bei der fast nur getreten und geprügelt wird. Nach zwei Spieltagen gibt es 34 Verletzte, darunter Pelé, der für den Rest des Turniers ausfällt. Zu allem Überfluß hat Europa gerade den Abwehrriegel entdeckt, doch bei den Deutschen geht die Mauertaktik schief, und nach der 0:1-Viertelfinal-Niederlage gegen Jugoslawien sind Herbergers Tage als Bundestrainer gezählt. Nicht einmal Brasilien kann glänzen, abgesehen vom sensationellen Garrincha, der seinen letzten großen internationalen Auftritt hat. Dank ihres überragenden Torwarts Villem Schroif dringen die Tschechoslowaken ins Finale vor, wo sie gegen Brasilien 1:3 verlieren, weil ausgerechnet Gummimann Schroif zwei schwere Fehler begeht. Ein Ende, das symptomatisch ist für die traurige WM im fernen Chile.

England 1966

16 Jahre nach dem Schock von Rio wird Fußballs Geburtsland Weltmeister – und dies verdient. Der Sport selbst hat sich immer noch nicht ganz erholt, auch in England bestimmen miserable Referees, üble Ruppigkeiten und sture Defensive oft das Bild. Pelé wird erneut in der Vorrunde aus dem Turnier getreten, Uruguays Troche ohrfeigt Seeler, der so reagiert, wie knapp 30 Jahre später auf die Mißstände beim HSV – gar nicht. Anders als in Chile wird aber auch spektakulärer Fußball geboten, nicht zuletzt von den Nordkoreanern, die Italien rauswerfen und auch gegen Portugal mit 3:0 führen. Das Spiel verlieren sie dennoch mit 3:5, weil die Portugiesen Eusebio haben, der vier Tore schießt. Insgesamt bringt es der Mann aus Mosambik auf neun Treffer. Am Ende belegen die Portugiesen Rang drei und müssen zusehen, wie das bis 1986 berühmteste WM-Tor nicht Eusebio, sondern Geoff Hurst schießt.

Mexiko 1970

Allen Unkenrufen zum Trotz bringt die WM in Mittelamerika endlich wieder großen Fußball. Deutschland, Italien, Brasilien und England liefern sich packende Spiele. Bei den Brasilianern darf Pelé erstmals seit 1958 wieder bis zum Finale durchspielen, ihm zur Seite stehen Ballkünstler wie Gerson, Tostao, Jairzinho, Rivelino und Carlos Alberto. Trotz dieser unschlagbaren Kollektion von Fußballvirtuosen, trotz eines Charlton, Cubillas, Rivera oder Beckenbauer, für die größte Verblüffung sorgt ein kleiner, stämmiger Bursche aus Deutschland, der die seltsamsten Tore schießt, die man sich vorstellen kann, und davon gleich zehn. Nahtlos vermag Gerd Müller an die Tradition kugelrunder Torjäger in deutschen Reihen anzuknüpfen, die zuvor schon mit Helmut Rahn und Uwe Seeler zu Erfolgen führte, inzwischen aber leider nicht mehr gepflegt wird.

Deutschland 1974

Helmut Schön beweist, daß er ein gelehriger Schüler Sepp Herbergers war. In der Vorrunde eine peinliche Niederlage, diesmal gegen den FC Sparwasser, im Finale den scheinbar übermächtigen Gegner schnell in Führung gehen lassen, schon ist die Sache geritzt. Das Duell der beiden bedeutendsten Fußballer Europas ist auch der Kampf zweier Philosophien. Auf der einen Seite Franz Beckenbauer, der sich nach drangvoller Frühphase dem Zweckfußball verschrieben hat, auf der anderen Seite Johan Cruyff, der Abenteuer, ungestüme Angriffslust, revolutionären Aufbruch und eben Scheitern verkörpert. Gerd Müller schraubt sein WM-Tore-Konto mit dem titelbringenden Treffer zum 2:1 gegen die Niederlande auf 14 und tritt anschließend zigarreschmauchend zurück. Günter Netzer hingegen muß einsehen, daß allein erhöhtes Körpergewicht noch keinen Stammplatz im deutschen Team garantiert.

Argentinien 1978

44 Jahre nach dem Gastspiel am Hofe Mussolinis reist der Fußball zu den argentinischen Generälen. Funktionäre wie Havelange oder Neuberger stören sich nicht an Folter und Mord, sondern sind sogar froh, daß zwei Jahre vor Turnierbeginn „preußische Gründlichkeit“ (Neuberger) an die Stelle des peronistischen Chaos tritt. Zur Strafe gibt's die Schmach von Córdoba. Argentiniens Team wird ausgerechnet vom linksliberalen Trainer Menotti betreut, für die vaterländischen Parolen sorgt Libero Daniel Passarrella. Ohne den daheimgebliebenen Cruyff unterliegen die Niederlande am Ende dem argentinischen Sturmwirbel, der sich in Gestalt des robusten Mario Kempes manifestiert. Die markanteste Figur einer WM ohne große Spieler und ohne großen Fußball ist diesmal ein Trainer: Cesar Luis Menotti, der in den Jubel der Generäle den vielsagenden Satz spricht: „Meine talentierten klugen Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt.“

Spanien 1982

Brasilien hat endlich wieder eine Mannschaft, die an die Ära Pelé anknüpfen kann. Zico, Falcao, Socrates, Eder, Junior spielen bezaubernden Fußball, der nur von den Franzosen mit ihrem exquisiten Mittelfeld Giresse, Platini, Tigana annähernd erreicht wird. Beide Teams fallen jedoch der Destruktivität zum Opfer. Frankreich scheitert im Halbfinale am semikriminellen deutschen Team, Italien wirft Brasilien raus, nachdem es zuvor eine wahre Hatz auf Argentiniens Diego Maradona veranstaltet hat. Am Ende steht ein verdienter 3:1-Sieg des grobschlächtigen Systems Gentile gegen das zynische Modell Breitner.

Mexiko 1986

Wie schon 1970 scheint Mexikos Höhenluft die Kicker der Welt zu beflügeln. Dänemark, Sowjetunion, Spanien, Belgien, Frankreich, Brasilien, sie alle liefern begeisternde Spiele, aber alle haben ihren Aussetzer, mit dem das Turnier für sie beendet ist. Durchgehend konstant spielen nur die Argentinier, bei denen Diego Maradona diesmal von den Schiedsrichtern geschützt wird wie ein wertvolles Kleinod. Die Protektion geht so weit, daß er gegen England sogar mit göttlicher Hand das allerberühmteste Tor der Fußballgeschichte erzielen darf. Zwei Minuten vor Ende der WM werden die Deutschen von ihrem legendären Glück verlassen, und Burruchaga trifft zum 3:2. Das wahrste Wort des Turniers spricht nach dem Finale Toni Schumacher: „Ich habe gehalten wie ein Arsch.“

Italien 1990

Auf geheimnisvolle Weise werfen Maradonas Argentinier Brasilien sowie Italien raus und mogeln sich ins Finale. Den Deutschen ist diesmal jedoch kein Team gewachsen, außer Kamerun, das aber von England kühl und tragisch aus dem Weg geräumt wird. Am Ende erzielen Beckenbauers Mannen zwar nur noch Elfmetertore, aber das ist völlig angemessen, da es sich ohnehin um eine WM der Elfmeter handelt. Szenen von bleibendem Wert: Higuita umdribbelt einen wütenden Völler, Milla umdribbelt einen wütenden Higuita und Rijkaard sammelt schon mal etwas Spucke.

USA 1994

Brasiliens Coach Parreira ist zu feige, Ronaldo mitspielen zu lassen, kommt aber noch mal davon. Als erste Mannschaft holen die Brasilianer zum vierten Mal den Titel, während ein erschlankter Diego Maradona, weil er Fett durch Ephedrin ersetzt hat, frühzeitig nach Hause muß. Genauso Stefan Effenberg, der die WM-Bilanz des deutschen Teams schon vor dem Abgang gegen die bulgarischen Pommes-Liebhaber mit einer sparsamen Geste auf den Punkt bringt: den gestreckten Mittelfinger.

Die ultimative WM-Elf:

Ricardo Zamora – Djalma Santos, Franz Beckenbauer, Nilton Santos – José Andrade, Pelé, Bobby Charlton, Diego Maradona – Garrincha, Leonidas, Johan Cruyff

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen