Bleibt er wieder sitzen?

Jeder glaubt ihn zu kennen. Er dagegen ist sich sicher, daß ihn eigentlich fast keiner kennt. Und er kann sicher sein, daß ihn fast keiner liebt. Und mancher schon auf die Gelegenheit giert, ihn endlich loszuwerden. Wenn es „gerecht“ zugeht, glaubt Berti Vogts, wird er nichtsdestotrotz auch nach dieser WM noch DFB-Trainer sein.  ■ Von Peter Unfried

Manchmal möchte man ihn umarmen. Na ja, zumindest mal geistig. Eine Handvoll Journalisten. Es geht um die Machtverhältnisse im deutschen Fußball. Und dann sagt Berti Vogts: „Also, erst mal, lese ich eine bestimmte Zeitung gar nicht.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, nachgerade todernst sagt er das. Jetzt kommt der Witz: Mittendrin in dieser Runde sitzt der Chefreporter von Bild. Und der muß jetzt natürlich ganz schön kämpfen, um auch nicht zucken.

Hihihi.

Großartig. Ob das nun stimmt, was Vogts behauptet, oder nicht – geschenkt. So was ist auch Vogts.

Erst wenn man ihn dann fragt, ob die Aufnahme eines bestimmten Spielers in den WM-Kader nicht doch auch als Zugeständnis an dessen großen Mentor gedeutet werden kann, merkt man, daß ihm nicht einmal halbironisch zumute ist. „Wer so etwas glaubt“, sagt er nämlich dann mit antrainierter Strenge, „hat kein Vertrauen zum Trainer Vogts.“ Und ehe man sich versieht, geschieht es, daß man unwillkürlich schon wieder ein Stück von ihm abrückt.

Fakt ist: Vogts' Rückholung des verdammten Lothar Matthäus in den WM-Kader ist eines der erstaunlichsten Comebacks des deutschen Fußballs. Nicht einmal Fritz Walters Rückkehr 1958 kann sich damit vergleichen, geschweige denn jene von Uwe Seeler 1970 oder Paul Breitner 1982. Fakt ist auch: Dieser Rückkehr voraus ging eine gigantische Promotion-Aktion. Mit jener schleppten die Publikationen Bild und Sport-Bild den vormaligen DFB-Kapitän durch, nachdem er – nach Vogts' Ansicht – mit ihrer freundlichen Unterstützung zunächst die WM 1994 verbockt hatte und sich anschließend um Posten, Ehrenspielführerschaft und ewigen Nachruhm gezetert zu haben schien.

Dann spielte Matthäus tatsächlich eine sehr solide Saison, Matthias Sammer kam nicht mehr auf die Beine, und Vertreter Olaf Thon erwies sich als verletzungsanfällig. Also ist Matthäus dabei. Obwohl Vogts doch gesagt hatte, er werde, „solange ich Bundestrainer bin, nicht mehr für Deutschland spielen“. Jetzt sagt er einfach: „Ich könnte sagen: Was nützt mir mein Geschwätz von gestern?“ Hä? Dieser Vogts wirkte in den Tagen vor der WM auf die meisten Medienvertreter plötzlich, als wisse er genau, was er tue.

Allein hat er diesen Plan ausgetüftelt, um sich gegebenenfalls der vermeintlichen fußballerischen Restqualitäten des einstigen Ausnahmekickers Matthäus zu bedienen – und gleichzeitig mit dessen negativer Ausstrahlung auf manche andere jene in eine leistungsfördernde Spannung zu versetzen. Der Team-Spirit von England war auch ein Gefühl gegen den abwesenden Matthäus – das sich abgenutzt hatte.

„Bei Mönchengladbach“, das fiel ihm plötzlich wieder ein, „gab es auch einen Spieler, mit dem habe ich kein Wort geredet.“ Aber: „Wir haben zusammen den Erfolg gesucht.“ Kapitän Jürgen Klinsmann bleibt sein Mann, seine Verkörperung des Guten, die seine Mannschaft beseelen soll. Das weniger moralische Element aber hat er in seine Welt zurückgeholt, damit es den Guten als Mahnung diene. Und ihnen Beine mache.

Und wenn das Böse außer Kontrolle gerät wie 1994? Vogts weiß, daß Matthäus aufpassen muß; für ihn geht es um nichts weniger als den Aufstieg in die Unsterblichkeit eines deutschen Fußballhelden. Sogar sein neues Handy durfte er mit ins WM-Quartier bringen. „Das“, sagte Vogts lapidar, „steht ihm genauso zu wie jedem anderen Spieler auch.“

Klar, daß Matthäus mit seinen Bild-Freunden reden wird, aber auch die werden vorsichtiger sein als 1994, als sie Vogts ans Kreuz schlagen wollten, seine Rücktrittserklärung abgedruckt (“Unterschreiben Sie hier“) hatten – und danach blöd dastanden, als er blieb und dafür den Kapitän entfernte. Er hat es schon mal härter ausgedrückt. Im Moment sagt er: „Es gab Dinge, wo sich der Lothar hat benutzen lassen.“ So was kann er in zehn Minuten dreimal sagen.

*Natürlich steht ihm längst nicht nur Bild skeptisch gegenüber, seit er bei der WM 1994 im doppelten Sinne sitzengeblieben ist. Logisch: Sonst würde ihm Bild ja nicht skeptisch gegenüberstehen. Aber es gibt seit der EM auch eine ganze Reihe Fachjournalisten, die sich nicht mehr eisern an die Gewißheit klammern, mit einem Vogts könne das eh nichts werden. Dennoch und trotz aller taktischen Vorkehrungen zu einer für ihn optimaleren Schuldumverteilung: Er wird nie unschuldig sein wie Beckenbauer, seine Position als mächtigster Mann im deutschen Fußball hängt vom WM-Ergebnis ab. Oder der Art des gespielten Fußballs? Großen Fußball kann Vogts nicht spielen lassen. Erstens, weil ihm dazu die Kreativkräfte fehlen. Zweitens, weil er Vogts ist.

*Natürlich redet er oft, natürlich träumt er manchmal vom schönen Fußball. Vielleicht drückt sich im Spiel seines Teams dennoch exakt der Charakter des Trainers aus – eigentlich will er sich den Sieg erarbeiten und also verdienen. Als Spieler schwankte sein Verhältnis zum Mönchengladbacher Antipoden Günter Netzer zwischen Anbetung und tiefem Mißtrauen. Netzer war großartig, doch eben nur sporadisch. Dafür verehrt man ihn noch heute. Auf ihn, Vogts, war jeden Samstag Verlaß. Davon redete schon damals kein Schwein. Ist das gerecht?

Verläßlichkeit. Um sich hat er keine Visionäre geschart – sondern Rainer Bonhof. Als sein Team im März nach knapp zwei Jahren gegen Brasilien erstmals wieder verlor, war es nicht verläßlich gewesen, sondern schlampig. War, Kreativspieler Möller vorneweg, einfach losgerannt. Dafür wurde es, sagt Vogts, „Gott sei Dank bestraft“. So soll es sein, mit einer solcherart organisierten Welt kann er leben. Das findet er gerecht, das geht dann in Ordnung. Der Profi Mario Basler, andererseits, ist eine Option auf eine Überraschung. Vogts sieht in ihm hauptsächlich eine Gefahr. Basler hat er in den USA nicht gebraucht, in England früh an den Rand der Gruppe gedrängt und nun gar nicht erst mitgenommen. Mehmet Scholl war 1994 die Nr. 23 und diesmal wieder. Das ist kein zufällige Konstellation, sondern Konsequenz.

*Einmal, für Sekunden oder Minuten, war er vielleicht, wie er immer einmal sein wollte und nicht konnte. Anders. Wie Beckenbauer. Oder Netzer. In der Kurve des Wembley-Stadions machte er nach dem EM-Sieg La Ola. Allein. Wenn man versucht, sich zu erinnern, denkt man einmal, auch diese Geste sei wieder bloß Vogts gewesen, verunglückt, überzogen, unangemessen, und habe etwas Groteskes gehabt. Ein anderes Mal denkt man, ein Mann habe – für einen Moment – abgeworfen, was in dreißig öffentlichen Jahren „Berti Vogts“ festgelegt hat: das jahrelange Mithecheln neben Größeren, die furchtbare Kapitäns- Niederlage von Cordoba, den gesamten Hohn und Spott des DFB- Trainerdaseins, dieses ganze Hundeleben eines Terriers. In diesem Moment war ihm Vogts' Dogma von der „sozialen Disziplin“ schnurz und manches andere auch. Dieser Mann war nicht mehr Vogts, er war F-R-E-I. Na ja: Das ist natürlich alles Spekulation. Recht sicher ist, was er dabei gedacht haben wird: Ich habe es verdient. Das hier ist nur gerecht.

*An jenem Frühsommertag, an dem der DFB Journalisten zum Hintergrundgespräch gebeten hat, ist es richtig heiß. Vogts trägt ein blauweißes Sommerhemd. Es sind nicht viele Leute im Raum, die meisten kennt er, und so ist er weniger auf der Lauer, sondern wirkt manchmal fast entspannt. Jetzt nimmt man ihm ab, daß er es auch schade findet, daß man sich von der WM nicht erwarten kann, was Laie und Fachmann etwas undefiniert „großen Fußball“ nennen. Dann redet er aber schon über Räume, die „so eng“ sein müssen, „daß wir die Kopfballduelle gewinnen oder sofort da sind, wenn der Ball runterfällt“. Er redet darüber, daß sich das Spiel auf dem derzeitigen Entwicklungsstand eben „auf ungefähr dreißig Metern“ abspiele. Und was das damals für ein „ein Superspiel“ gewesen sei, als Milan und Marseille im Landesmeister-Finale 1993 Schach spielten – „von der Taktik her“.

Richtig aufgekratzt ist er da plötzlich.

Was soll uns das sagen? Daß Vogts ein Fußballtrainer ist, wahrscheinlich. Sonst nichts. Wenn man unter den Tisch schaut, kann man seine karierte Krawatte lustig zwischen den Beinen baumeln sehen.

*Eigentlich ist er ja seit seit Ewigkeiten im Amt. Eine junge Generation weiß schon gar nicht mehr, wie's ohne ihn war. Und das nicht nur, ohne mit Springer, wie man so sagt, zu „kooperieren“ – sondern auch ohne Vettern bei den WM- Rechteinhabern ARD und ZDF oder dem Bundesligaverwerter Sat.1. Statt sich wie Vorgänger Beckenbauer zum Nutzen, Ruhm und Reichtum beider zu arrangieren, bringt er ARD-Reporter Hartmann zum Weinen, indem er ihn einfach so siezt. Und sitzt seit acht Jahren eine „Das war nix, Berti!“-Schlagzeile nach der anderen aus. Dabei ist Wirtschaftswunder-Waise Vogts bekanntlich ein großer Kohl-Freund. Was ist das Problem? Anders als Bild und Beckenbauer meint er seinen Wertkonservatismus verdammt ernst: Wenn Bild demnächst Kohl auffordert, seine Rücktrittserklärung zu unterschreiben, wird Vogts noch an seiner Seite sein. Selbst dem Matthäus hat er zu allen Zeiten „immer zum Geburtstag gratuliert“.

*Manchmal hat man ja so Ideen. Dann denkt dann: Es wäre bestimmt schön, der Sohn von Berti Vogts zu sein. Dieser sensible Mann, der vielleicht doch das Gute will! Dann aber denkt man wieder: Es wäre womöglich furchtbar.

*Dann schließt er sein Gesicht ab, erhebt sich, beschleunigt von null auf hundert und flieht. Zu diesem Zeitpunkt ist ein anderer Mann längst in seine Nähe geeilt. Dann rennen die beiden nebeneinander her, manchmal fünf, manchmal zehn Meter, und obwohl sein Gesicht doch abgeschlossen ist, penetriert der Mann ihn. Jedesmal geht das so, ob das große WM- Spiele sind oder bloß popelige Pressekonferenzen. Dieser Mann ist Chefreporter. Und sein strenges Gesicht drückt eine eindeutige Botschaft aus. Es sagt: Du entkommst uns nicht! Da aber hat es Berti Vogts auch dieses Mal wieder geschafft. Die Tür ist zu – und Bild steht draußen.