: Hillbilly und Halbgott
■ Jenseits gefälliger Altersweisheiten: Der enigmatische Folksänger Bob Dylan residiert ein weiteres Mal im Hamburger Stadtpark
Dylan beim Papst, Dylan beim herzbedrohlichen Pilz auf der Intensivstation, Dylan als Video-Gast bei Wycleaf Jean, Dylan bei den Grammies (und sogar als Gewinner!), Dylan in den deutschen Charts: Sage keiner, es wäre leicht gewesen, Bob im letzten Jahr zu ignorieren.
Plötzlich krochen selbst die wieder aus publizistischer Deckung, die ihn nach den Traditional-Alben Good As I Been To You und World Gone Wrong schon weggeschrieben, weil nicht verstanden hatten. Zwar nutzte er das Booklet des letzteren zu einem kulturpessimistischen Traktat erster Güte, doch auf verquere Weise ist der Dylan der 90er so „modern“ wie lange keiner mehr: Autorenschaft(en) interessieren ihn nicht mehr, Archetypen um so mehr.
Fast wie höhere Fügung mußte es da anmuten, daß in die Monate der Bob-Renaissance auch die Wiederveröffentlichung der Anthology of American Folk Music fiel, auf der ein gewisser Harry Smith 1952 obskure Blues- und Hillbilly-Songs zu einem Kanon unvergessener Alltagskultur des „anderen“ Amerika gebündelt hatte. „Wenn du diese Songs singen kannst“, erklärte Dylan einmal in einem Interview, „dann kannst du überall hingehen. Elementarer als eine Mörder-Ballade von Dock Boggs geht's nun mal kaum.“ Und: „Traditionelle Musik ist zu irreal, um jemals zu sterben. Ich selbst habe jedenfalls nie etwas geschrieben, daß so far out ist wie einige dieser alten Songs.“
Dylan ist bis heute nicht nur der prominenteste Prophet des 84-Songwerks geblieben, sondern wohl auch der einzige, der die gigantische Vorlage intuitiv richtig begriff. Weil er sich nie damit begnügte, direkt mit Coverversionen darauf Bezug zu nehmen. Vielmehr ließ er sein eigenes Oeuvre beständig schwingen und vibrieren auf dem Referenzboden dieser alten Songs, damit sie nicht zu bloß merkwürdig anmutenden Zeugnissen einer vergangenen Zeit degradiert, sondern Zeitreisende jenseits musealer Bestimmung wurden. Auch Dylans beständige Uminterpretation der eigenen Songs auf seiner Never Ending-Tour basiert auf diesem Verständnis. Und atmet nicht auch die unerschrockene, unaffektierte Manier, in der er auf seinem jüngsten Album Time Out of Mind Themen wie Tod und Vergänglichkeit einkreist, den Geist der Anthologie? Aufrechte Verbitterung, mit der er jenseits gefälliger Altersweisheiten völlig unsentimental den Jahren hinterherschaute, klang jedenfalls kaum je so verstörend und tröstlich zugleich.
Wäre Dylan ein (fast) namenloser Hillybilly-Sänger der späten 20er Jahre gewesen, der es irgendwie geschafft hätte, einen Song wie „Love Sick“ oder „Not Dark Yet“ in einem Stück Schellack zu verewigen – Harry Smith wäre definitiv nicht an dem Mann vorbeigekommen. Was der gewiß als Kompliment begreifen würde. Vielleicht sogar mit einem Lächeln auf den Lippen.
Jörg Feyer
Fr, 12. Juni, 19 Uhr, Stadtpark. Karten sind noch an der Abendkasse erhältlich.
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