Großes Versprechen

Ein Brit-Film über eine Flucht aus der belagerten Stadt: „Welcome to Sarajevo“ von Michael Winterbottom  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der Regisseur hat ein Faible für plakative Titel: „Welcome to Sarajevo“ ist die Transkription eines Graffito am Flughafen der damals belagerten Stadt und war wahrscheinlich gar nicht zynisch gemeint. Winterbottom allerdings beginnt seinen Film mit einer Fernsehfahrt durch die vollkommen verlassene Straße eines zerschossenen Dorfes. Am Ende der Fahrt mischen sich Farben ins Bild, dann wird das Format aufgezogen zur Kinobreite. Die digitale Technik kehrt immer wieder, wenn Gipfelpolitiker und UNO-Offizielle sprechen; Karadžić auch, mit einer dreisten Lüge. Archivaufnahmen vom Kriegsschauplatz werden mit nachgestellten Szenen verschnitten.

Man kennt inzwischen das Szenario der Journalisten in ihrem quälenden double bind: Während sie mit ihren Nachrichten hoffen, die Situation zum Kippen bringen zu können, sind sie in der belagerten Stadt ein Schwarm von Katastrophengeiern, die am Ort des Schreckens so unfehlbar und pünktlich in Erscheinung treten, als hätten sie das Blutvergießen bestellt. Der moralische Konflikt, der sich ergibt, ist kaum auszuhalten. Werden sie zu Helfern, bekommen sie ihre Bilder nicht mehr; bleiben sie dem journalistischen Ethos treu, verwandeln sie sich zu Zynikern. Den Berufszynismus allerdings legt Winterbottom nicht gegen seine Figuren aus – oder jedenfalls nicht mehr als nötig. Während das Genre klar ist – Spielfilm –, erscheint es jedoch eine volle Schulstunde lang so, als ginge es nur um den Alltag der ReporterInnen. Großartig ist die Anfangsszene, in der die Ministranten ihr Ornat anlegen und mit dem Priester auf die Straße treten: weiß leuchtende bewegliche Ziele für die Verrückten, die sich einquartiert haben auf den Dächern Sarajevos und Gott spielen. Der Priester stürzt, liegt reglos da; und einer von zweien, die ihn schließlich zurückschleifen in die Kirche, ist ein Journalist namens Flynn.

„Are you leaving so soon, Mr. Flynn, the war is so young“, dichtet eine Kollegin in der Halbruine des Holiday Inn. Eine andere preist eine selbstrecherchierte Schockgeschichte mit den Worten, sie sei besser, „als Jane Austen zu bumsen“. Ein nächtliches Telefonat zeigt einen britischen Berichterstatter namens Henderson bei dem Versuch, mit seiner fernen Frau den Hauch eines Gleichklangs zu finden (daß es nicht wie vermutet um eine ruinierte Ehe geht, sondern nur um die inkompatible Situation des Telefonats, erkennt man erst später).

Für seinen Sender kann Henderson mit einer telegenen Sensation aufwarten: die Situation eines Waisenhauses in der Frontlinie. Daß er die Geschichte täglich in Varianten abfährt, bringt ihm die Kritik der Kollegin, er berichte nicht mehr, sondern fahre eine „Kampagne“. Henderson glaubt, die Evakuierung der Waisen erzwingen zu können, und verwechselt im entscheidenden Moment – als er gefragt wird – seine Hoffnung mit Gewißheit.

Das sichert ihm die stumme Treue eines Mädchens namens Emira, das mit neun Jahren Babys wickelt und tröstet, tröstet und wickelt. An sein Versprechen erinnert, mogelt schließlich Henderson Emira als blinden Passagier in einen Bus, der Babys evakuiert. In einer Tschetnik-Kontrolle gerät Henderson in einen unlösbaren Konflikt: Die Tragödie selbst nähert sich in der Gestalt eines fliegenden Splitters.

Winterbottom hat den Film nach einem Roman gedreht, der „Natasha's Story“ heißt. Emira, als Figur, heißt nach dem Mädchen, das die Waisin überzeugend – mit jener glaubhaften Reduktion der Kriegskinder – spielt: Emira Nusević. Etwas populär ist die Anmerkung im Nachspann geraten, „Emira still lives in England“. In England lebt das Mädchen, das ein Journalist dorthin gebracht hat und das in der Romanfassung der Geschichte „Natasha“ heißt.

Emira Nusević lebt in Sarajevo, wo der Film Jahre nach dem Krieg gedreht ist. Manche Szenen sind eher Miniaturstudien über die Not im Krieg; Schwarzmarkt und jugendliche Prostitution werden beiläufig angedeutet. Mit dem Nachteil mancher halbdokumentarischer Hänger gelingt es Winterbottom, die Geschichte der Rettung Emiras einzuflechten in ein komplexes Geschehen – man haushaltet mit den Gefühlen des Retters und der Geretteten. Deshalb endet der Film auch nicht in London, sondern in Sarajevo, wohin Henderson zurückkehren muß, um die Adoption Emiras abzusichern.

Dies wird gewiß nicht der letzte Kinofilm über Sarajevo als belagerte Stadt sein, aber er zieht Kraft aus einer Reihe zeitgenössischer Quellen: der britischen und amerikanischen Berichterstattung, dem Professionalismus des britischen Kinos und dem Schauplatz des überwundenen Krieges als immer noch fürchterliche Kulisse. Es gibt keine schauspielerischen Schwächen; Goran Višnjić als Fahrer Risto mit seinem schiefen Lächeln und seinem Cowboygang ist nur einer von etlichen glücklichen Griffen im Casting.

Das Thema der bosnischen Waisen hat sich für Winterbottom nicht erledigt. Im Herbst startet „I Want You“, die Geschichte eines Geschwisterpaares unter den düsteren Himmeln Englands. „I Want You“ spielt teils im lokalen Britpop-Milieu, was ein Problem löst, das „Welcome to Sarajevo“ indes noch hat. Der Soundtrack schönt den Krieg.

„Welcome to Sarajevo“. Regie: Michael Winterbottom. Mit Stephen Dillane, Woody Harrelson, Marisa Tomei, Kerry Fox und Emily Lloyd. UK/USA 1997, 102 Minuten