Keiner weint der Regierung nach

Kasachstans Regierung zieht um: Der Präsident will nicht ins „weiße Grab“, sondern in die „Hauptstadt“  ■ Aus Almaty Thomas Dreger

Es erinnerte an die Zeiten der Sowjetunion: Tausende weißgekleidete Menschen in einem Stadion heben auf Kommando schwarze Schilder und formen so Wörter und Parolen. Dazu winkt ein verkniffen dreinblickender Staatschef, und das Staatsfernsehen überträgt die stundenlange Zeremonie auch noch live. Einweihung der neuen Hauptstadt Kasachstans hieß das Stück, und entsprechend bildeten die Massen mit ihren Schildern immer wieder das Wort „Astana“ – Hauptstadt. Per Dekret hatte Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew im Februar verkündet, der Name der neuen Hauptstadt sei schlicht Hauptstadt. Zuvor hatte der Ort im Nordwesten des Landes Akmola geheißen, was „viel Weißes“ bedeuten kann, aber auch „weißes Grab“, und das war Nasarbajew dann doch zu despektierlich.

Staatschefs aus anderen GUS- Staaten, aber auch der türkische Präsident Süleyman Demirel waren ebenso wie das diplomatische Korps aus der früheren Hauptstadt Almaty (zu Sowjetzeiten Alma Ata) zu der zweitägigen Veranstaltung in die kasachische Steppe gereist. Nur Rußlands Präsident Boris Jelzin weilte in Bonn und ließ sich mit einer knapp einminütigen verlesenen Rede entschuldigen.

1994 hatte der zum Marktwirtschaftler gewandelte ehemalige KP-Funktionär Nasarbajew angekündigt, die Hauptstadt von Almaty in das über 1.000 Kilometer entfernte Akmola zu verlagern. Bis dahin sollte die mehr aus Bauruinen denn aus Häusern bestehende Ansiedlung zur Kapitale ausgebaut werden. Im vorigen November fand der offizielle Umzug statt. Doch weil die Bauarbeiten nicht schnell genug vorangegangen waren und im Winter in der neuen Hauptstadt Minustemperaturen von bis zu 30 Grad herrschen, wurde die offizielle Einweihung in den Sommer verlegt. Diplomaten in Almaty schätzen die Kosten für den Umzug auf 200 Millionen US- Dollar.

Angesichts der maroden Wirtschaftslage lassen sich die Bürger wenig für das Projekt begeistern. „Das ist der reine Schwachsinn!“ ist die einhellige Meinung unter einer Gruppe von Studenten in Almaty. „Ich kenne niemanden, der für den Umzug ist“, ergänzt einer. „Mach den Unsinn bloß aus!“ wird dem ausländischen Besucher gewiesen, der die TV-Übertragung aus Astana ansehen will. Dennoch spricht sich offiziell kein Politiker gegen den Umzug aus. Ein kasachischer Journalist erklärt warum: „In Kasachstan gibt es immer zwei Meinungen: eine für den Parteitag und eine für die heimische Küche.“

Dabei weinen die meisten der eineinhalb Millionen Einwohner in Almaty der Regierung keine Träne nach. Schließlich hat Nasarbajew versichert, daß die ehemalige Hauptstadt wirtschaftliches Zentrum des Landes bleibt. Dafür werden schon die ausländischen Geschäftsleute sorgen, von denen kaum einer Anstalten macht, der Regierung in das 300.000 Einwohner zählende Astana zu folgen. Auch will kein einziger westlicher Staat seine Botschaft verlegen. „Viel zu teuer!“ heißt es aus einer europäischen Vertretung, zudem gebe es in Astana viel zu viele Mücken. Vielleicht würden die Staaten der EU gemeinsam eine Niederlassung einrichten, „so daß da mal jemand übernachten, telefonieren und faxen kann“. Aber vorher müsse gesichert sein, daß hinter den neuen Fassaden Astanas „auch echte Gebäude stehen“.

Kasachstans neue Hauptstadt ein potemkinsches Dorf? „Nein, nicht ganz. Zumindest für die Minister sind dort schöne Bungalows gebaut worden.“ Dennoch gehe man davon aus, daß die kasachische Regierung weite Teile ihrer Amtszeit mit Fliegen zwischen der alten und der neuen Hauptstadt verbringen wird.

Warum also der Umzug? Selbst Nasarbajew hält sich mit plausiblen Erklärungen zurück. Almaty sei erdbebengefährdet und liege zu nahe an der chinesischen Grenze, Astana dagegen habe günstige Zugverbindungen nach Rußland, erklärt er und preist die neue Hauptstadt als zweites Brasilia. Die Suche nach geographischer Nähe zu dem großen Rußland gilt unter politischen Beobachtern in Almaty noch als wahrscheinlichstes Motiv für den Umzug – neben dem Wunsch des Peräsidenten, sich ein Denkmal zu setzen. „Vielleicht“ so der kasachische Journalist, „heißt die Hauptstadt ja bald ,Astana Nasarbajew‘.“