Ein langer Tag im Sterben einer Stadt

Nach dem Tod von Militärdiktator Abacha geht Nigeria ungewissen Zeiten entgegen. Auch die Metropole Lagos, größte Stadt Schwarzafrikas, kämpft gegen den Niedergang. Inmitten des täglichen Überlebenskampfes träumen Trendsetter von besseren Zeiten  ■ Von Dominic Johnson und Harry Nutt (Text) sowie Akinbode Akinbiyi (Fotos)

Vier Uhr. Noch vor dem Morgengrauen schieben sich müde Gestalten aus ihren Schlafplätzen hinter ärmlichen Holzverschlägen am Straßenrand. An einer schmutzigorangenen Hauswand klettert eine Ratte das Gewirr zusammengeflickter Stromkabel hinab. Aus einem Fenster des weißgetünchten Nebenhauses brüllt ein Radio die neuesten Cricketnachrichten aus England in die schwüle Nacht, danach Gospelgesänge. Die schwere Luft regt sich nicht.

Acht Uhr. Lagos ist eine Pendlerstadt. Die meisten der etwa zehn Millionen Einwohner der Metropole – die genaue Zahl kennt keiner – beginnen den Tag mit der Überwindung riesiger Entfernungen. Drängelnd und oft im Schneckentempo wälzt sich pünktlich zur gleichen Zeit jeden Tag die halbe Stadt auf Märkte und in Geschäftszentren.

Der ganze Stolz der Stadt sind die gigantischen Straßenbrücken – einst gebaut von der deutschen Firma Julius Berger –, die sich aus den endlosen Wohnvierteln auf dem Festland über stille Lagunen und schlammige Slums in Richtung des historischen Stadtzentrums auf Lagos Island schwingen. Auf diesem Ungetüm von Stadtautobahnnetz reparieren Bautrupps jeden Schaden, alte Frauen mit Besen entfernen jedes Sandkorn. Die zerbröselnden Hauptstraßen der Stadtviertel versinken derweil im Müll und, wenn es regnet, in großen Wasserlachen. Vor Bushaltestellen, deren Plätze nur Einheimischen bekannt zu sein scheinen, versammeln sich Menschentrauben aus beanzugten Mittelständlern und resoluten Marktfrauen. Sie zwängen sich in schrottreife gelbe Kleinbusse, deren Schaffner auch auf der Autobahn noch halb aus der Tür hängen und mit Körpereinsatz Vorfahrt erzwingen.

Alles eine Frage der Überlebenskunst, Beschaulichkeit ist unbekannt. Sehenswürdigkeiten hat Lagos so gut wie keine. Es gibt weite Teile der Stadt, wo kaum je ein mehrstöckiges Gebäude aus dem Meer von Holzhütten, zerfallenden Kolonialbauten und vollgestopften Marktplätzen herausragt. Von abstoßender Häßlichkeit sind die raren modernen Wohnkomplexe. Aus deren oberen Geschossen hängen an Gerüsten rote und blaue Dieseltanks für die privaten Stromgeneratoren.

Am Horizont glitzern die Hochhäuser von Lagos Island. Und dahinter lockt als geheimes Paradies die Insel der Reichen am Atlantischen Ozean, Victoria Island. Dieses Villenviertel ist auf Sand gebaut. Die Insel erhebt sich kaum über den Meeresspiegel. Wenn tropische Stürme aus dem Atlantik hereinfegen, schwappt der Ozean über den Strand und setzt ganze Straßenzüge tagelang unter Wasser. Reichtum in Lagos ist prekär.

In den siebziger und frühen achtziger Jahren, als Nigerias Öl nicht nur sprudelte, sondern auch Milliarden Dollar ins Land schwemmte, erwarb sich die größte Kommune Schwarzafrikas ihren Ruf als Moloch, als härtestes Pflaster des Kontinents, wo Mitleid ein Fremdwort war und der Überlebenskampf sich lohnte.

Die Regierung wußte es besser: Zum Höhepunkt der goldenen Zeit beschloß sie, im Landesinneren eine neue Hauptstadt zu bauen: Abuja. Trotz aller Widrigkeiten hielt sie an ihrem Plan fest. Je weiter die Ölpreise fielen und die Politik in Militärherrschaft erstarrte, desto unerbittlicher ging Lagos nieder.

Die Reichen von damals sind noch immer reich, aber Wohlstand trägt die Stadt nicht zur Schau. Lagos hat seine flirrende Schnelligkeit verloren. Es ist eine Hülse, wo die Staatsmacht unsichtbar bleibt und wo Bewohner mit verzweifelten Warnungen vor unbeschreiblichen Gefahren ihren eigenen Mythos beschwören. Wer kann, hat Nigeria verlassen oder verschanzt sich in Privatstraßen, zu deren Betreten Polizisten Passierscheine ausstellen. Lagos ist ein Dorf, genauer: tausend Dörfer, von denen keines sich selbst genug ist.

Zwölf Uhr. Chief Oshodi ist nicht zu Hause. Der Herr über ein Drittel der Altstadt von Lagos, heute 73 Jahre alt, lebt in einem soliden alten Gebäude mit wunderbaren Holzschnitzereien auf der Eingangstür und einem Thron im Wohnzimmer. Um die Ecke steht ein Obelisk zu Ehren des 1868 verstorbenen Chief Balogun Oshodi Tapa of Lagos; ein Plakat auf dem Sockel betrauert den Bruder des heutigen Chiefs, Hadji Bakr Disi Oshodi, verstorben am 11. April 1998 im Alter von 103 Jahren. Also doch eine Tradition? Nach der Autorität der Chiefs gefragt, antwortet eine Geschäftsfrau nach einer Weile: „Sie denken, daß sie wichtig sind.“

Ein Händler meint: „Es gibt keine Wahrheiten hier. Die Leute jagen das Geld.“ Er heißt Cosmos Izugha, kam 1985 aus dem Osten Nigerias nach Lagos und handelt seit nunmehr elf Jahren mit medizinischem Zubehör. Nie würde man meinen, daß in seiner engen Bruchbude Einwegspritzen oder Nabelschnurscheren zu haben sind. In der Ecke steht ein Faxgerät. Der Kaufmann erzählt von seinen Abnehmern in halb Westafrika. Batterieauflader, Videocassettenreiniger und Glühbirnenverleiher – auf diesem Markt gibt es fast alles, Waren und Dienstleistungen.

Doch das Geschäft läuft schlecht. „Alles steht still“, sagt Cosmos Izugha, während draußen Lastenträger durch den Schlamm waten. „Die Leute warten ab.“ Nicht anders sieht das Shahudeen Usman, Direktor der Nal Merchant Bank, dem größten nigerianischen Handelsgeldhaus. Von dessen prächtigem Büro im 16. Stock des Nal Tower an der Marina von Lagos ist ein hinreißender Blick über den Hafen bis zu den Mangrovensümpfen jenseits der Stadt möglich. „Viele meiner Kunden halten sich zurück, um zu sehen, wie die Lage sich entwickelt.“ Bevor nicht klar ist, ob das Militär in Nigeria an der Macht bleibt oder nicht, rührt keiner einen Finger.

Manche aber doch. Einige Ecken weiter ziehen neueingewanderte Geschäftsleute aus dem Osten des Landes Ladenzeilen hoch. Noch stehen die meisten Räume leer, aber einige Bauherren verkaufen von dort aus Baumaterial. „Dies ist die beste Zeit, um sich vorzubereiten“, erklärt Bankdirektor Usman. „Dann kann man den Markt im Sturm nehmen, sobald die Wirtschaft wieder anläuft.“

Nach dem auf den Märkten zur Schau gestellten Waren zu urteilen, hat Lagos eine Wachstumsbranche: Särge.

Sechzehn Uhr. Inmitten des Staus wirbelt plötzlich eine Kaskade von Händen und Ellenbogen durch die Luft. Für ein paar Naira – Nigerias Landeswährung –, die die Autofahrer ihm zustecken, regelt ein ekstatisch zuckender Jugendlicher den Verkehr. Die Sehnen seines Halses springen hervor. Ein paar Meter weiter belagern fliegende Händler die zum Schritttempo gezwungenen Autos und Busse. Es gibt Pure Water – ungenießbares Wasser in Plastiktüten, angeboten von kleinen Jungen; Obst, Säfte, Rasierapparate, Bodybuilding-Geräte, Sonnen- und Klobrillen, Duschvorhänge, Kinderbücher.

Wo der Verkehr zum Stillstand kommt, entsteht der Markt der Verzweifelten, die nicht einmal einen Sechsmeterverschlag ihr eigen nennen können. Dazu kommen die Opfer von Kinderlähmung, die sich auf den Händen durch den Verkehr schieben, und die Krüppel, die ihre Armstümpfe durchs Autofenster strecken.

Derzeit staut sich der Verkehr besonders oft. Der Grund: die seit einem Jahr andauernde Benzinknappheit. Ein Irrsinn: Weil alle Ölraffinerien des Landes kaputt sind, muß das Ölland Nigeria sein Benzin teuer importieren. Das meiste wird illegal weiterexportiert oder auf dem schwarzen Markt verhökert.

An den Tankstellen stauen sich die Autos. Wer an einen solchen Stau gerät, sollte lieber umkehren. Problematisch wird das, wenn der Taxifahrer die Autobahneinfahrt rückwärts wieder hinausfährt, in der falschen Richtung eine Brücke überquert und auf der anderen Seite die Ausfahrt in den fließenden Gegenverkehr ansteuert, um nach hundert Metern Geisterfahrt über eine andere Autobahneinfahrt wieder gegen die Fahrtrichtung hinauszufinden. Spätestens dann steht nämlich ein Polizist im Weg, grinsend, die eine Hand voller Geldscheine und die andere Richtung Autofenster ausgestreckt, und ruft: „Have you got anything for me?“ Ein Polizist verdient monatlich etwa 30 Mark.

Zwanzig Uhr. Wenn es dunkel wird, erschlägt Lagos durch Leere. Wie ein Leuchtfeuer, das in der Wüste von besseren Zeiten kündet, erstrahlt das Nationaltheater im Scheinwerferlicht. 1976 eröffnet, beherbergte es ein Jahr darauf das „World Black and African Festvial of Arts and Culture“, bis heute ein Symbol für den kulturellen Aufbruch Afrikas.

Das Theater ist nach den Plänen des Palastes für Sport und Kultur von Varna, Bulgarien, erbaut. Schon der Anblick von Holzvertäfelung und Plüschteppichen läßt schwitzen. Eine halbwegs funktionierende Klimaanlage gibt es nur noch in einem der drei Säle. Die meisten Schauspieler der hier ansässigen National Theatre Troupe gehen längst anderen Beschäftigungen nach, die labyrinthartigen Flure wirken gespenstisch.

Größter Traum der Kulturschaffenden von Lagos ist es, dieses Mausoleum vergangener Größe wieder zum Leben zu erwecken. Nach Ende einer gutbesuchten Theateraufführung seufzt Theaterregisseur Ben Tomoloju leise: „Ach, hier würde ich gerne arbeiten!“

Sogar in der Hauptstraße des mondänen Wohnviertels Ikeja ist es einfacher, eine Privatklinik für Haustiere zu finden als eine offene Kneipe. In der Flaniermeile der Neureichen reihen sich schicke Boutiquen aneinander, bevorzugt mit französischen Namen – die Sprache des neuen diplomatischen Verbündeten in Paris, der den Herrschern Nigerias Anschluß ans Weltniveau verheißt: „Mes Enfants“, „La Visage“, „La Petite Boutique“.

Alteingesessene weisen in Ikeja unablässig darauf hin, was es alles nicht mehr gibt. Wo heute der Schnellimbiß „Tastee Chicken“ samt Unterabteilung „Tastee Ice-Cream“ mit gelbroten Neonleuchten protzt, befand sich früher einmal der Nachtclub „Niteshift“. Dort traf sich bis zur Schließung Ende Juni 1996 alles, was in Lagos Rang und Namen hatte.

„Wir setzten Standards“, erinnert sich Besitzer Ken-Caleb Olunese heute und schlürft seinen Cognac. „Nicht, daß die Musik anders war, aber wir führten Aktivitäten ein, die über Musik aus Lautsprechern hinausgingen: Livemusik, politische Treffen, lauter große Namen und Politikgestalter. Wir hatten einmal im Monat für sie ein Programm, wo sie reden konnten: Unternehmenskapitäne, ehemalige Vizepräsidenten, der gewählte Präsident, hohe Militärs.“ Er trauert: „Heute kann man nirgends mehr hingehen. Nur noch in Hotels.“

Ken gehört zu denjenigen, die sich auf eine neue Zeit vorbereiten. In bester Lage in Ikeja errichtet er derzeit das „Niteshift Colosseum“. Das architektonische Konzept – kreisrunde Säle – hat er selbst entworfen, die Kosten selbst vorgestreckt. Noch in der Nacht hämmern und schweißen seine Arbeiter. Ken redet sich als künftiger Mogul des neuen Lagos in Fahrt. „Wir werden mindestens einmal im Monat Livemusik haben, Künstler aus Europa einführen“, hofft er und verspricht für die Zeit nach der Eröffnung im Oktober ein Ideen- und Kraftzentrum für die neue Lagos-Society: ein bißchen Establishment, ein bißchen Subkultur, ein bißchen Clan.

Einlaß wird man allein durch seine Gnade erhalten. Ken schwört: „Es wird sehr, sehr teuer. Wenn Sie kein Geld haben, brauchen Sie ja nicht zu kommen!“ Selbstverwirklichung in Lagos scheint zuallererst Grenzerfahrung zu sein. Ken spricht von seinem Projekt, als gälte es, Lagos neu zu gründen. Er betreibt seine Idee mit der Energie eines Getriebenen.

Mitternacht. Ein Teil des Geheimnisses von Lagos birgt der „Shrine“, unumstrittene Kultstätte des Afrobeats, wo der Musiker Fela Anikulapo Kuti bis zu seinem Aidstod im August vorigen Jahres regelmäßig auftrat und mit seinen 27 Tänzerinnen und Musikern samt Anhang in der Kommune Kalakuta II. lebte. „Wenn du diesen Ort verstehst“, sagt Jahman Anikulapo, Journalist und entfernt mit Fela verwandt, „dann verstehst du Nigeria.“

Unter dem Wellblechdach des „Shrine“ verfängt sich süßlicher Marihuanaduft. Felas Band, die nach seinem Tod zusammenblieb, heizt dem Publikum mit Stücken des Gurus afrikanische Rhythmen ein: „Zombie“, „Water has No Enemy“. Fela lebt. Eine Nacht im „Shrine“ ist Ahnenkult. Leer das Podest, auf dem seine Keyboards standen. In hölzernen Käfigen legen Felas Tänzerinnen den Rhythmus vor, schweißgebadet und grauhaarig bewegen sich Trompeter und Saxophonisten auf der Bühne.

Felas Auftritte waren eine ungebrochene Performance seiner Anti-Establishment-Philosophie. Fela – Freakphilosoph, Politiker und Haschrebell. Hier zelebriert man sein Andenken und das Lagos, das er verkörperte. In der Nachbarschaft befinden sich mehrere Kirchen, für die der Lärm eine Provokation darstellt – nun ist der „Shrine“ selbst eine Kirche geworden.

Seun, Felas vierzehnjähriger Sohn, soll die Band übernehmen und übt sich zum Gefallen der Fans schon in Fela-Pose. Er ist nicht der einzige, der das viel zu große Erbe antritt: Felas ältester Sproß Femi Kuti, längst ein anerkannter Musiker, tritt auch noch im „Shrine“ auf, aber zum Ärger mancher Puristen hat er sich seine eigene Band aufgebaut. Femi raucht auf der Bühne kein Marihuana: Die Exzesse des Vaters möchte er überwinden.

Ein anderes neues Lagos-Gefühl findet man im nahen „Motherland“, wo der Jazzrocker Lagbaja seine Maske aufsetzt. Lagbaja heißt jedermann. Er gibt ein Anti-Fela-Programm, musikalisch mit Übergängen zum Pop. Während Fela ein Feuerwerk der Unverwechselbarkeit entfachte, will Lagbaja das Gewöhnliche verkörpern. „Zu Felas Zeiten“, sagt er, „gab es noch Hoffnung. Jetzt nicht mehr.“

Zu einem Lagbaja-Konzert im „Motherland“ herrscht Einlaßkontrolle. Selbst Wasserflaschen müssen draußen bleiben. Das Publikum besteht fast ausnahmslos aus der vergnügungsbereiten Mittelschicht, man trägt T-Shirts von Versace und Jeans von Armani. Ist das, was Lagos braucht, der Anschluß an einen universellen Pop? Staut sich unter Felas Wellblechdach einfach zu viel Verzweiflung?

Vier Uhr. Es gibt noch einen Fela-Erben, der ebenfalls in Ikeja auftritt und das Glück hat, Fela von allen am ähnlichsten zu sehen: Dede, der im Open-Air-Etablissement „The Den“ die alten Nummern mit einer neuen Band vorführt und das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißt. „Dies ist der neue Fela!“ erklärt selbstbewußt eine Zuhörerin. Sogar der alte Baritonsaxophonist aus Felas alter Band schleppt sein verbeultes Instrument hierher und erweist dem Rivalen mit ein paar gefällig gespielten Noten seine Reverenz.

Eine der vielen Fela-Witwen, von einem Besucher als „die Verrückte“ bezeichnet, tanzt vor der Bühne herum und läßt ihre Bewegungen von einem auf ihren Hintern gerichteten Spot verfolgen.

Aber während Dede Saxophon bläst, fällt der Strom aus, der Generator springt nicht an. Die Bühne wird dunkel, die Töne der Blechbläser verstummen. Während das Publikum erst murrt und dann kichert, hallen nur noch die afrikanischen Schlagzeuge durch die Nacht.

Harry Nutt, 39 Jahre, ist seit 1997 Leiter der Kulturredaktion der taz. Lagos besuchte er auf Einladung des Goethe-Instituts, um an einem Workshop über das nigerianische Zeitungsfeuilleton teilzunehmen.

Akinbode Akinbiyi, 51 Jahre, geboren in England, dort und in Nigeria aufgewachsen, lebt seit 1977 als freiberuflicher Fotograf – u.a. für Geo und Du – in Berlin. Er hat seit 1980 mehrmals Nigeria bereist und fotografiert.

Dominic Johnson, 31 Jahre, ist Mitglied der taz-Auslandsredaktion seit 1990. Der politischen Entwicklung Afrikas und Großbritanniens gilt sein besonderes Augenmerk. Nigeria bereiste er kürzlich zum ersten Mal.