Immer schön am Hinterrad kleben

■ Die Tour de France startet diesmal in Irland, mit weiteren Überraschungen ist zu rechnen. Die deutschen Fans aber wollen nur eins: Jan Ullrich im Gelben Trikot sehen. Wie kommt er damit klar, wie stark sind

Ist er nun zu fett, oder ist er's nicht? Und ehrlich gesagt, wen interessiert das? Überflüssige Pfunde bei Jan Ullrich beschäftigen mittlerweile nicht nur Sportreporter, sondern auch ganz normale Menschen. Wie die Omi kürzlich beim Bäcker: „Der Junge soll doch weniger Nußecken in sich hineinstopfen“, befand die alte Dame. „Wie soll der denn sonst da den Berg wieder hochkommen wie letztes Jahr in den Alpen?“

Auch wenn die so Besorgte etwas durcheinander bekommen hat: Der letztjährige Tour-Gewinner steht ganz schön unter Druck. Alle Welt erwartet von dem 24jährigen, daß er von nun ab jedes Jahr die Runde durch Frankreich gewinnt. Dabei vergessen viele, daß das deutsche Radlerwunder insgesamt noch gar nicht so lange besteht. Ein Ullrich ist mal gerade seit vier Jahren in den Schlagzeilen, das Reagenzglasprodukt Team Deutsche Telekom, gezeugt durch unser aller Fernsprecheinheiten, war bis vor kurzem gar nicht bei der Tour de France zugelassen. Mangels Qualität, wie es damals hieß.

1996 war das erste Erfolgsjahr der grau-magenta-farbenen Werksradler. Der Däne Bjarne Riis wurde Sieger, Ullrich kam auf den zweiten Platz. Im letzten Jahr gab es dann den totalen Triumph: Ullrich wurde Tour-Sieger mit dem zweitbesten Abstand zum zweiten in der Geschichte der Rundfahrt, Erik Zabel gewann die Punktewertung, und das Team Telekom holte sich den Pokal im Gesamtklassement. Allerdings haben Radlegenden wie Dietrich Thurau (fünf Etappensiege) oder Rudi Altig (acht) da in der Vergangenheit schon mehr geleistet.

Was den beiden Oldies damals indes nicht gelungen war, hat der Jungstar Jan Ullrich auch nicht geschafft. Einen Radsport-Boom in Deutschland konnten alle drei nicht auslösen. Den Fans ist es offensichtlich bequemer, vor dem Fernseher oder am Rande der Strecke ihrer Begeisterung freien Lauf zu lassen, anstatt ein paar tausend Mark für eine Rennmaschine lockerzumachen. Und dann noch zu trainieren.

So ist von der Tour-de-France- Euphorie des vergangenen Jahres mal gerade ein Personenkult um einen rothaarigen Rostocker übriggeblieben, wenn überhaupt. Verkniffene Gesichter beim Anstieg nach Alpe d'Huez, schweißglänzende aufgepumpte Oberschenkel in knallbunten Radlerhosen: Das verbindet niemand so recht mit Glanz und Glamour, heißen Girls und Champagner-Orgien. Radsportler sind asketische Arbeiter mit durchgescheuerten Ärschen auf dünnen Sätteln. So sieht die Herrlichkeit hierzulande aus.

In Belgien oder Frankreich ist das natürlich ganz anders. Da lieben sie nicht nur ihre Stars, da wird Radsport aus Tradition gepflegt. Ein kleiner Junge in Roubaix oder Bastongne wünscht sich neben dem ersten Fußball eben auch die erste Rennmaschine, um es unsterblichen Idolen wie Merckx, Hinault, Thevenet oder Fignon nachzumachen.

Und so scheint sich die Aufregung um die diesjährige Tour aus deutscher Sicht im Rahmen zu halten. Jan Ullrich ist eben nicht Michael Schumacher. Er verdient auch nicht soviel. Auch wenn der Vergleich etwas hinken mag: Der Absatz sportiver Autos im Vergleich zum Gesamtverkauf aller Pkw war nach Schumachers Formel-1-Sieg prozentual höher als der Anteil von Rennmaschinen an allen verkauften Fahrrädern. Nach Ullrichs Toursieg stieg dieser zwar um das Doppelte. Aber das waren dann auch nur zwei Prozent anstatt einem von insgesamt 4,5 Millionen verkauften Velos.

Euphorie hin oder her, in diesem Jahr ist bei der sowieso alles etwas anders. Der Fußball-WM sei Dank, beginnt das 23-Tage-Spektakel in Irland. Zunächst einmal startet die Rundfahrt mit dem Prolog in Dublin. Die erste Etappe (Dublin–Wicklow Mountains– Dublin) und die zweite (Enniscorthy Cork) sind vom Profil her nicht sonderlich anspruchsvoll, aber Wind und Wetter sind dort nicht zu unterschätzen.

Ab dem 14. Juli rollt die Tour- Karawane dann auf heimatlichem Terrain. Von der Bretagne geht's dann erst einmal südwärts in Richtung Pau, wo sie dann kurz die Pyrenäen besucht. Das bedeutet im großen und ganzen eine Flachtour mit jeder Menge Rückenwind zu Beginn.

Das hieße, daß die Favoriten zunächst auf ein anständiges Teamwork angewiesen sind. Und da sieht es in diesem Jahr bei Festina aus Spanien mit Ullrichs letztjährigem härtesten Widersacher Richard Virenque zur Zeit am besten aus. Alex Zuelle, Marcel Wuest, José Uriarte oder Didier Rous scheinen bisher in ihrer Gesamtheit am stärksten in Form zu sein. Das Problem mit Festina ist nur: Taktisch waren sie 1997 nicht gerade auf dem Damm. Wir erinnern uns: Bei der 18. Etappe zog Rous Virenque bis auf vier Minuten von Ullrich weg, um dann selbst seinen Kapitän abzuhängen, um Tagessieger zu werden. So blöd darf man sich nicht anstellen, wenn man nach knapp 4.000 Kilometern vorn sein will.

Das italienische Team vom Telefon-Kredit-Multi Cofidis mit der Bergziege Francesco Casagrande wird Bergankünfte wie in Alpe d'Huez in diesem Jahr vermissen. Da wird sein Kollege Fondriest nach dem Rücktritt von Toni Rominger eine Menge Arbeit im Wind leisten müssen. Und Once, das Team der spanischen Blindenlotterie mit ihrem Käpt'n Laurent Jalabert, ist ohne Zuelle weniger wert. Bruyneel ist bereits 34, warum sie den von Rabo geholt haben, fällt jedenfalls nicht sofort ins Auge.

Also doch wieder die Deutschen? Erik Zabels gute Frühform in allen Ehren, Udo Bölts unverwüstliche Kondition oder Giovanni Lombardis Geduld des Vorjahres im Sinn: Bjarne Riis ist zu schwach nach seinem Handbruch, und Jan Ullrich hätte sich besser vorbereiten müssen. Siegen wird einer, den niemand auf der Liste hat. Und das könnte für die deutschen Fernsehzuschauer nach der WM die zweite Pleite in diesem Jahr bedeuten. Jürgen Francke