Mon Dieu Mondial
: Oh, diese Katholiken!

■ Den WM-Bedenkenträgern zum Trotz redet sich alles fast wie von selbst schön

Marie Claire, Elle, Vogue und so weiter verfolgen in ihren Juniausgaben durchweg den Kuschelkurs auf den Fußball zu. Stand by your man! Jedes Match verdient einen extra Snack: für Holland gegen Mexiko hat Marie Claire an Rollmöpse, Tortillas und Guacamole plus Sol-Bier gedacht, und für heute, Deutschland gegen USA, an einen schönen Apfelstrudel. Bedenken soll man auch, daß jedes Kilo Gouda, das man kauft, einen Franc für den Verband armenischer Kinder bedeutet, der unter Charles Aznavours Schirmherrschaft steht.

Cosmopolitan wiederum stellt seinen Leserinnen eine Liste von Fragen zur Verfügung, die man während eines Stadionbesuchs mit dem Geliebten einfach besser nicht stellen sollte. „Warum setzen wir uns nicht“ gehört dazu, oder „ist das nicht dein Kumpel Georges, da hinten auf der Ehrentribüne“, und natürlich keinesfalls: „Wer hat gewonnen“, zu guter Letzt. Wer sich kühn fühlt, soll statt dessen ruhig mal etwas Kluges ausrufen wie: „Le terrain est un champ de patates“ (Das Spielfeld ist ein Kartoffelacker). Leserinnen, die nicht nur Männer in Trikots sehen wollen, sondern „The Full Monty“, werden auf die California Dream Boys verwiesen, die konvenienterweise genau während der Weltmeisterschaftszeit in den Folies- Bergère strippen.

Alles sehr entspannt also. Es ist meine erste WM. Wie immer, wenn ich irgendwo zum ersten Mal hingehe, heißt es, daß die guten Zeiten vorbei sind, perdu. So war es beim ersten Filmfestival, beim Dylan-Konzert oder sogar bei meinem Geburtstag, der war auch zu spät. Und nun sollen natürlich die Zeiten des guten Fußballs auch längst vorbei sein. Wo früher Impulsivität war, so heißt es, ist heute Kalkül, wo früher Fairneß war, wird heute geholzt, und wo früher Kunst war, ist heute Kommerz. Statt Mannschaften nur noch Stars, ohne Stallgeruch. Was es einmal gab an authentischer Fankultur, muß heute aufwendig von der Polizei in Schach gehalten werden.

Um die ganze frohe Fußball- Weltmeisterschaft gleich in solch einen Bedenklichkeits- Schatten zu stellen, hat Le Monde diplomatique in der aktuellen Ausgabe einen Text von Jean Baudrillard wieder gedruckt, der sich 1985 zu der Katastrophe im Brüsseler Heysel- Stadion beim Spiel FC Liverpool gegen Juventus Turin geäußert hatte, als sei die Hybris des modernen Menschen an ihr Schuld: „Die Szenen im Brüsseler Heysel-Stadion sind eine Vorwarnung. Sie sind Anzeichen für ein unbegreifliches Ereignis: für die Implosion unserer Gesellschaften, für ihren allmählichen oder brutalen Schrumpfungsprozeß vor der Kulisse von Expansion und Reichtum.“ Diese Katholiken! Man könnte meinen, Baudrillard oder Virilio, die zwischen Heysel-Stadion, Olympia-Attentat, Auschwitz oder ICE- Entgleisung bestenfalls graduelle Unterschiede sehen, warteten nur auf das nächste Unglück...

Sollen sie. Wild entschlossen, mich zu amüsieren, ohne dabei ins Walter-Jens-hafte aufrücken zu müssen, sitze ich nun also mit Nüßchen und Notizblock vor dem Fernseher und stelle fest, daß sich alles fast wie von selbst schönredet. Nehmen wir nur ein Spiel wie Spanien gegen Nigeria. Hatte es nicht alles, was man braucht? Weit ausgreifende Manöver, brisante junge Menschen, erschütternde Zufälle, und alle naslang eine gänzlich veränderte Dramatik, so daß bis zuletzt völlig offen war, wie die Chose ausgehen würde. Und das war keineswegs das einzige Spiel dieser Art. Wenig ist zu merken von jener freudlos ineinander verkeilten Mann-gegen-Mann-Vorsicht, von der vorab immer die Rede gewesen war. Statt dessen, so jedenfalls sah es aus, große Gefühlsbewegungen, auf dem Platz und auf den Rängen, mit anschließend angenehm unaufdringlichen Kommentaren von Günter Netzer. Mariam Lau

Mariam Lau ist freie Autorin