Europa-Gipfel als Wahlkampftribüne Helmut Kohls

■ Auf Initiative Helmut Kohls und Jacques Chiracs soll die Europäische Union auf dem Gipfel in Cardiff wortreich zurückgestutzt werden – Außenminister Klaus Kinkel wußte von nichts

Brüssel (taz) – In Bonn löste der Brief eine kleine Regierungskrise aus: Es sei höchste Zeit, schrieben Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident Jacques Chirac dem britischen Premier Tony Blair, in der EU „Fehlentwicklungen in Richtung auf zuviel Zentralismus zu korrigieren“. Die EU müsse den nationalen Regierungen wieder mehr Spielraum lassen, und darüber müsse auf dem Gipfeltreffen in Cardiff gesprochen werden.

Als sich die 15 EU-Außenminister Anfang letzter Woche zur Vorbereitung des Cardiff-Gipfels in Luxemburg trafen, hatten 14 von ihnen den deutsch-französischen Brief auf dem Tisch – nur Klaus Kinkel wußte nicht, wovon die anderen redeten. Der Außenminister soll richtig getobt und sogar ein bißchen mit Rücktritt gedroht haben – schließlich würde er schon gern vorher wissen, was Kohl möchte, damit er sich entsprechend verhalten kann.

Die Kritik, daß sich die Europäische Union inzwischen zuviel in nationale Belange einmische, eignet sich immer wieder, um vor nationalen Wahlen aufgewärmt zu werden. Die britische Regierung, die derzeit den EU-Vorsitz innehat, ist eh dieser Meinung – und so hat Gastgeber Tony Blair den Vorschlag begeistert aufgenommen und ins Programm eingebaut.

Das Problem ist nur, daß jeder damit etwas anderes meint. Blair beispielsweise hielt es vor kurzem für wesentlich, daß die EU endlich verbindliche Vorschriften für die Käfiggrößen in Zoos macht, statt sich dauernd darum zu kümmern, wie London mit seinen wahnsinnigen Rindern umgeht. Und von der deutschen Regierung wird in Brüssel erzählt, daß sie sich gerade für die Normierung von Außenspiegeln stark gemacht hat, eine Idee, die ihr BMW ins Ohr geblasen haben soll.

Immerhin sind sich Kohl und Blair einig, daß sich die EU bei der Beschäftigungspolitik zurückhalten sollte, wovon sie aber die französische Regierung noch nicht überzeugen konnten. In Paris will man einfach nicht einsehen, daß die Arbeitslosigkeit von selbst zurückgeht, wenn nur alle kräftig ihre Staatsschulden abbauen.

Daß es in Cardiff zu einer Grundsatzdebatte über Arbeitsmarktpolitik kommt, ist dennoch nicht zu erwarten. Die Regierungschefs haben sich längst daran gewöhnt, bei jedem Treffen rituell und entscheidungsfrei über Beschäftigung zu reden. Das hat zwar im Publikum den Eindruck noch verstärkt, daß die EU sich um alles kümmert und nichts richtig anpackt, aber deshalb will Kohl ja darüber reden, was die EU künftig tun und was sie lassen soll.

Seine Kritik richtet sich jedoch nicht so sehr gegen die anderen Regierungen als gegen die EU- Kommission, die seiner Meinung nach zurechtgestutzt werden müßte. Außerdem sollten die Entscheidungsverfahren im Ministerrat, wo die Vertreter der Regierungen die wichtigsten Beschlüsse fassen, effizienter gemacht werden.

Doch beide Forderungen standen vor einem Jahr in Amsterdam schon auf der Tagesordnung. Damals ging es hoch her, weil Kohl zur Überraschung aller plötzlich von einer Einschränkung des Vetorechts nichts mehr wissen wollte.

Daß die Regierungen in Cardiff einer Lösung näher kommen, ist wenig wahrscheinlich. Kohl will nur ein bißchen herumnörgeln, damit die Wähler sehen, daß er auch gegen europäische Auswüchse ist. Die deutschen Stellen in Brüssel wurden schon vor einigen Wochen angewiesen, bis September alle stittigen EU-Entscheidungen zu blockieren. Nach den Wahlen könne es dann wie gewohnt weitergehen. Alois Berger