Spanisches Stahlwerk verstrahlt Europa

In einem Stahlwerk in Algeciras wurde mit Schrott auch Cäsium 137 eingeschmolzen. Die ausgestoßene radioaktive Wolke beschäftigte die Meßstationen in den Alpen, nicht jedoch die spanischen Atomkontrolleure  ■ Von Reiner Wandler

Berlin (taz) – Das Rätsel ist gelöst: Eine radioaktive Wolke, die Ende Mai und Anfang Juni in den Alpen die Meßstationen Alarm schlagen ließ, stammte aus einem südspanischen Stahlwerk bei Algeciras. Das gab am Freitag abend der Nukleare Sicherheitsrat (CNS) in Madrid kleinlaut zu.

Die Betreiberfirma Acerinox hatte bereits Anfang vergangener Woche Radioaktivität in den Abluftfiltern eines der drei Öfen des erst 1995 fertiggestellten Stahlwerkes an den CSN gemeldet. Mit einer Fuhre Stahlschrott sei wohl versehentlich radioaktiver Sondermüll eingeschmolzen worden. „Das sind Zustände wie in einer Bananenrepublik“, erklärte die spanische Greenpeace-Chefin Helene Fuste angesichts des Unfalls. Erst vor sechs Wochen hatte eine schwermetallhaltige Flut den Naturschutzpark Doñana gefährdet.

Ob aus Süddeutschland, Südfrankreich, Norditalien, Österreich oder der Schweiz – von überall her waren bei der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) seit Ende Mai erhöhte Meßwerte gemeldet worden. Mit 150 Mikrobecquerel pro Kubikmeter Luft war die Konzentration an radioaktivem Cäsium 137 tagelang 100mal höher als üblich. Das Schweizer Bundesamt für Gesundheit registrierte auf dem Monte Ceneri im Tessin gar 1.000fach überhöhte Werte.

Die IAEO in Wien stand vor einem Rätsel. Sie konnte die Herkunft der Kontaminierung nicht klären. Einen Unfall in einem AKW, wie 1986 in Tschernobyl, als die Werte um eine Million Mal anstiegen, schien unwahrscheinlich, da nur Cäsium 137 gemessen wurde, und keines der anderen für einen solchen Unfall typischen Isotope. Die IAEO suchte die Ursache der hohen Werte vergeblich in Spätfolgen von Tschernobyl. Nur in einem waren sich alle einig: Für die Bevölkerung bestehe keine Gefahr.

Die CSN konnte sich erst fünf Tage nach der Selbstanzeige von Acerinox dazu durchringen, den Unfall an die IAEO weiterzumelden. Die eingeschmolzenen Cäsiumkapseln stammen vermutlich aus der Industrie oder aus einem medizinischen Labor. Solche Strahlenquellen werden zum Beispiel benutzt, um bei der Papierherstellung die Dicke des Endproduktes zu überprüfen oder um Blutkonserven zu sterilisieren. Vermutlich sei das Cäsium in einer strahlenundurchlässigen Ummantelung an den Meßgeräten vorbei mit dem Stahlschrott in den Hochofen gelangt, erklärte Acerinox den Vorfall.

Die südspanische Umweltschutzgruppe Agaden beschuldigt Acerinox der Falschinformation. Das Unternehmen habe bewußt versucht, den CNS und die IAEO in die Irre zu führen, indem der Unfall auf den 9. Juni datiert worden sei. Die Strahlenquelle könne auf keinen Fall erst Anfang vergangener Woche eingeschmolzen worden sein. Der Unfall müsse bereits um den 25. Mai herum stattgefunden haben. Nur so ließen sich die erhöhten Werte über 2.000 Kilometer weiter nordöstlich erklären. „Seither wurde kontaminierter Stahl produziert und in Umlauf gebracht“, teilt Agaden mit. Die Gruppe hat deshalb eine Klage gegen Acerinox wegen „fahrlässiger Gefährdung der Bevölkerung“ eingereicht. Agaden fordert außerdem eine Untersuchung der Schlacken, die auf eine Müllkippe unweit der Provinzhauptstadt Cádiz gebracht wurden.

Der Umweltschutzbeauftragte der andalusischen Regionalregierung, José Luis Blanco, kritisiert das „unbeholfene und langsame Vorgehen“ der Atomkontrolleure und veranlaßte eine ärztliche Untersuchung der Acerinox-Arbeiter.

Das Wahlbündnis Vereinigte Linke hat eine Sondersitzung des Parlaments beantragt, bei dem die Verantwortlichen der CNS und Industrieminister José Piqué Rechenschaft über die schlampigen Kontrollen ablegen sollen. Schließlich betrieben die Atomkontrolleure überall in Spanien Meßstationen. Doch wollen sie, anders als ihre nordeuropäischen Kollegen, keine Abweichungen registriert haben.