The big „Apple“ Von Martin Sonneborn

New York! Wenn du es da machen kannst, kannst du es überall machen! Und wer überlegt denn nicht irgendwann, seiner elend bürgerlichen Existenz endlich eine Nase zu drehen, unbewegliche Habe beim Pfandleiher zu versetzen und in eben: N.Y. sein Glück zu suchen? Was natürlich eine völlig überzogene Kurzschlußhandlung wäre, zu der die aufgeklärten und mit beiden Beinen im Leben stehenden Damen und Herren der Reisegruppe Schmitt – inkl. meiner Person – wohl nicht einmal im Opiumrausch fähig wären.

Nun ja; einen einwöchigen Ausflug eben unter der Leitung des vielbewanderten und überhaupt lebens- wie N.Y.-erfahrenen Herrn Schmitt – das trauten wir uns aber sehr wohl zu! Und schließlich kehrte ja unsere zwölfköpfige Ausflugsgruppe auch wohlbehalten zurück. Wenn auch drei von uns mit einer erheblich demütigenden Erfahrung im Gepäck. Geschah es doch, als Reiseleiter Schmitt einmal zwei Tage in Washington weilte und wir folglich ohne Aufsicht waren, daß sich eine vorwitzige Expedition aufmachte, mitten in den uns eigentlich verbotenen Bezirk Harlem! Wo sich einer der mitreisenden Herren, der stille und feinsinnige Literat Henschel nämlich, nach dem Verlassen der U-Bahn nur kurz umblickte, blitzartig das Fehlen anderer Weißer erkannte, die Situation anhand eines Falk-Plans überprüfte, um dann in die Sicherheit der öffentlichen Verkehrsmittel zurückzuspurten. Das Ehepaar Gsella, der weitgereiste Herr Boven und ich jedoch erkundeten vorsichtig das Viertel; insbesondere die empfehlenswerte Kaschemme „Casablanca“, in der wir artig bewirtet wurden, und auch herzlich verlacht, als Herr Boven welterfahren Cola für sich bestellte.

Ob wir anderen durch diesen schönen Erfolg übermütig wurden, ob die verzehrten Biere unser Mißtrauen einschläferten? Jedenfalls waren wir einen winzigen Moment unachtsam, und genau dieser wurde wenig später in der U-Bahn- Station von einem abgebrühten Profiverbrecher gnadenlos genutzt. Hallo, hieß es von einem großgewachsenen Schwarzen eloquent, wegen Bauarbeiten gehe es hier nicht downtown, vielmehr müßten wir den Bus zur 110. Straße nehmen und, ohne Widerspruch zu dulden: er bringe uns nach oben. Auf der Treppe, die wir möglicherweise auch allein ganz gut bewältigt hätten, dann, nachdrücklich: „Give me your Tokens, please!“ Das Ehepaar Gsella und auch ich, der ich mich immer für mit allen Wassern gewaschen gehalten hatte, wir griffen in die Taschen und überreichten brav die U-Bahn-Chips. Erst als Herr Boven, der schon einmal in Lateinamerika erfolgreich beraubt worden war, uns heftig ins Gesicht lachte, wurde uns bewußt, wie raffiniert und dreist man uns gerade um unsere Tokens im Werte von je 1,50 Dollar gebracht hatte! Schnell fragte Herr Boven noch, was nun mit jenen geschehe, worauf der Verbrecher lachend antwortete: „I give it to the people.“ Was wiederum uns, besonders aber den umverteilungsfreudigen Herrn Gsella, diesen Verlust etwas leichter tragen ließ.

Später freuten wir uns sogar, daß der Herr nicht unsere Schuhe und Börsen gefordert hatte, und kehrten nach downtown zurück, von wo wir dann auch unter der Führung von Herrn Schmitt sicher zurückflogen...