„Frei, aber allein“

Das Labyrinth der Leidenschaften hat seine Stichworte, Bilder und Gesten. In den Filmen des Spaniers Pedro Almodóvar spiegeln sich eine Sehnsucht nach dem kleinen Glück und die Liebe zur großen Stadt Madrid  ■ Von Diemut Roether

Er ist modern und barock, mischt Pop und Folklore, verehrt schöne Frauen und liebt schöne Männer: Pedro Almodóvar, Spaniens bekanntester Filmregisseur, wird seit Jahren mit den Etiketten grell und schrill belegt. Dabei geht es in all seinen Filmen nur um die Sehnsucht nach dem Glück im Winkel. Almodóvars jüngstes Werk „Live Flesh“, das zur Zeit in deutschen Kinos läuft, ist sein konventionellstes, aber zugleich das raffinierteste. Ein Triumph der Kleinfamilie, könnte man meinen, wäre da nicht das tragische Ende eines anderen Paares, das sich auch einmal geliebt hat. Und wäre da nicht Almodóvars Filmographie, die eine ganz andere Sprache spricht.

In seinen zwölf Filmen hat Almodóvar eine genaue und liebevolle Chronik Madrids geschaffen. Alle seine Filme spielen in dieser Stadt, nur selten erlaubt sich der Regisseur einen Abstecher aufs Land. Er zeigt die spanische Hauptstadt von all ihren Seiten, hat in Armenvierteln und in Nachtclubs gefilmt, zeigt das wilde, ausgeflippte Leben in der Metropole und wirft gelegentlich einen schrägen Blick auf die strenge Katholizität hinter der modernen Fassade. Als er das Drehbuch zu seinem zweiten Film „Labyrinth der Leidenschaften“ schrieb, wollte er zeigen, „daß Madrid die wichtigste Stadt der Welt ist, eine Stadt, wo alle Welt sich trifft und wo alles passieren kann“. Diesem Grundsatz ist er treu geblieben, und obwohl er Anleihen bei Hollywoodgrößen von Hitchcock bis Wilder gemacht hat, sind seine Filme so spanisch wie die Puerta de Alcalá. Denn Almodóvar spielt mit den Grundmotiven der Folklore seines Landes, verfremdet und bricht sie und zeichnet so ein vielschichtiges Portrait des modernen Spanien.

Españolismos mit blauem Auge

Eine dunkelhaarige Frau mit riesigen goldenen Kreolen, die ihr fast bis zur Schulter reichen, tritt auf den Balkon ihres Hauses, um ihre Geranien zu gießen. Die Kamera zoomt, und nun ist zu erkennen, daß die schöne Frau ein großes blaues Auge hat. Die Kinozuschauer lachen, denn der Effekt ist komisch und tragisch zugleich. Das Bild ist ein spanisches Klischee, und das blaue Auge gehört zum Leben dieser Spanierin wie der Balkon mit den Geranien. Die Frau mit dem blauen Auge ist Angela Molina in Pedro Almodóvars jüngstem Film „Live Flesh“. Bei ihrem nächsten Auftritt sehen wir sie mit dunkler Sonnenbrille, in einem Leopardenmantel, umrahmt von einer roten Blumengirlande; später sitzt sie vor dem großen Portrait einer Tänzerin mit Fächer und Kamm im Haar. Clara, so ihr Name im Film, ist das folkloristische Element in „Live Flesh“. Ihre großen Ohrringe sind ebenso Teil dieser Folklore wie das Kosmetikköfferchen und die Batterie von Haarspraydosen in ihrem Badezimmer. Clara ist Carmen, die leidenschaftliche Andalusierin, verstrickt in eine verhängnisvolle Beziehung zu Sancho, der sie eifersüchtig liebt und schlägt. Am Ende wird er sie töten, denn – so Sancho zu seinem Kollegen David – „nur so kannst du verhindern, daß eine Frau dich betrügt“.

Spanische Folklore – Flamenco, Stierkampf, Marienverehrung – ist in allen Filmen Almodóvars gegenwärtig. Mal barock überzeichnet, mal poppig verfremdet. Manchmal sind es nur Schritte, die den Flamenco-Rhythmus zitieren, etwa wenn der hinkende Stierkämpfer und seine Freundin in „Matador“ die Treppe hochgehen. Doch zu allen Almodóvar-Filmen gehört Musik, die an Folklore erinnert. Meist kitschige, sentimentale Lieder, Boleros oder Paso dobles, über die der Regisseur einen Teil seiner Geschichte erzählt: „Es sind immer Lieder, die mir gefallen und die von meinen Helden sprechen, die ganz natürlich in die Welt meiner Filme einfließen.“

Machismo ist noch immer ein Grundelement der spanischen Gesellschaft. „Tiene huevos“ („Der hat Eier“) ist in Spanien ein großes Kompliment, das soviel bedeutet wie „der Mann hat Mumm“. Am Machismo zerbrechen die meisten Beziehungen in Almodóvars Filmen. In „High Heels“ ist es Rebeccas Ehemann Manuel, der die Rolle des gefühllosen, unnahbaren Machos spielt. Sein Gegenspieler ist Letal, der Transvestit, der Männliches und Weibliches in sich vereint. Er fühlt sich in Rebecca ein und zwingt sie, sich mit ihrer Mutter auszusprechen.

Männliche Ränder der Weiblichkeit

Hatte Almodóvar den Männlichkeitskult in frühen Filmen häufig in Gestalt der Polizisten karikiert, so sind die beiden Polizisten David und Sancho in „Live Flesh“ nicht nur Chiffren für Männlichkeit, sondern wirkliche Charaktere. Sancho schlägt seine Frau, weil er sie liebt. „Mir tut das doch mehr weh als dir“, sagt er zu ihr. In seiner männlichen Logik ein schrecklich wahrer Satz. Almodóvar behauptet, erst als „Live Flesh“ fertig war, sei ihm klar geworden, daß die Geschichte aus der Sicht der Männer erzählt werde. In dieser Männerwelt gibt es für die Frauen nur die besitzergreifende Liebe der Männer, konsequent bis zum tödlichen Ende.

Den Gegenpol zum Machismo bildet in Almodóvars Werk die Weiblichkeit. Sie wird inszeniert wie in einer Travestieshow, mit hochhackigen Schuhen, taillierten Kostümchen und fahrig übertriebenen Gesten. Hier wird deutlich, daß Almodóvar selbst häufig als Frau auf der Bühne stand. Am weiblichsten sind bei ihm Männer, die Frauen spielen: Bibi Andersen in ihren grandiosen Nebenrollen oder Bosé als Imitation von Becky del Páramo in „High Heels“. Almodóvar erweist mit seinen Frauenrollen den alten Filmdiven Joan Crawford, Greta Garbo oder Katherine Hepburn seine Reverenz. Auf die Spitze treibt er die Inszenierung mit der Rolle der Tina in „Das Gesetz der Begierde“. Carmen Maura spielt hier die Transsexuelle, die früher ein Mann war. Die Szene, in der Tina im sommerlich heißen Madrid nachts im Wasserstrahl der Straßenkehrer duscht, ist ein unvergeßliches Bild – wie Marilyn Monroe auf dem New Yorker U-Bahn-Lüftungsschacht oder Anita Ekberg in der Fontana di Trevi.

Die Frauen sind bei diesem Regisseur keine Stereotype, sie sind Wesen aus Fleisch und Blut. Ein bißchen hysterisch, oft sehr verzweifelt – wie im richtigen Leben. An seinen weiblichen Figuren fasziniert Almodóvar das Unbestimmte: „Frei, aber allein.“ In vielen seiner Filme suchen die Frauen Zuflucht in einer weiblichen Gegenwelt, in der Freundinnen, Schwestern und Mütter den Frauen „am Rande des Nervenzusammenbruchs“ Halt geben. So flüchtet sich die Romanautorin Leo Macias in „Mein blühendes Geheimnis“ während ihrer Krise in die heimatliche Dorfidylle. Dort, in der Gemeinschaft der klöppelnden Frauen im Patio, findet sie wieder zu sich selbst.

Der Liebesakt ist bei Almodóvar mal grotesk-akrobatisch wie in „High Heels“, mal karikierend wie in „Kika“ oder ein tödliches Ritual wie in „Matador“. Der Regisseur kennt keine albernen mystischen Überhöhungen wie schwebende Liebespaare, schon gar kein verschämtes Zusammenkuscheln unter der Decke.

In „Live Flesh“ ist der Akt heilig und zugleich durch und durch fleischlich. Eine Kommunion, an deren Ende Victor und Elena tatsächlich wie „ein Wesen“ auf dem Bett liegen. In der Nahaufnahme ist nicht mehr zu unterscheiden, welcher Körperteil männlich und welcher weiblich ist. Verführt hat Victor Elena mit einer der schönsten Liebeserklärungen, die je im Kino zu sehen waren: „Ich wollte der beste Liebhaber der Welt werden. Und dann wollte ich eine ganze Nacht mit dir vögeln. Ich wollte dir mehr Lust bereiten, als du dir je erträumt hast. Du wärst dann natürlich süchtig nach mir geworden...“ Liebe als Rache – daß das nicht funktioniert, hat Victor zu diesem Zeitpunkt erkannt. Für seinen Reifeprozeß belohnt ihn der „gute Gott“ Almodóvar mit einem Familienidyll.

Als Belohnung winkt die Kleinfamilie

Es ist ein langer Weg bis zur idyllischen Kleinfamilie, den Almodóvar in seinen Filmen zurückgelegt hat. Stets war die Familie präsent, als Bild der unerfüllten Sehnsucht und zugleich als Inferno, in dem die Schuldgefühle der Charaktere ihren Ursprung haben. Mal finden die Figuren in der Familie Halt, wie Leo in „Mein blühendes Geheimnis“, dann wieder ist es wie in „Matador“ die strenge, religiöse Mutter, die den Sohn zum Psychopathen werden läßt. Meist sind die Familien unvollständig, mutter- oder vaterlos, nur manchmal tritt ein böser Stiefvater an die Stelle des Vaters. Verzweifelt auch der Versuch, Familienbeziehungen herzustellen, wo keine sind: Rebecca heiratet den Mann, der einst der Geliebte ihrer Mutter war, und Ramón will nach dem Tod der Mutter Kika heiraten, die Geliebte seines Stiefvaters.

Die glücklichsten Familienkonstellationen sind bei Almodóvar häufig die absurdesten: In „Das Gesetz der Begierde“ wächst das Mädchen Ada in einer weiblichen Dreieinigkeit auf: Nachdem ihr Vater Tino das Geschlecht gewechselt hat und zu Tina wurde, hat Ada zwei Mütter – die zweite (gespielt von Bibi Andersen) ist allerdings, wie so häufig in Almodóvars Filmen, kaum präsent. Dennoch wirkt Ada an der Seite von Tina durchaus zufrieden, zumal Tinas Bruder eine Art Vaterfigur für sie ist.

In „High Heels“ wird Rebecca von ihrer Mutter, der Sängerin Becky del Páramo (Marisa Paredes), im Stich gelassen, dem Star ist Karriere wichtiger als die Tochter. Der Richter Dominguez (Miguel Bosé), der sich in die erwachsene Rebecca verliebt, wird für sie zu Vater und Mutter zugleich: Als Transvestit imitiert er die Sängerin Becky del Páramo, und immer wenn Rebecca Sehnsucht nach ihre Mutter verspürt, besucht sie seine Show. Als Richter versucht er, wie ein Vater ordnend in ihr Leben einzugreifen. Ausgerechnet der Transvestit, der ihre Mutter imitiert, hat Rebecca geschwängert und bittet sie, ihn zu heiraten: „Ob du es willst oder nicht, wir haben eine Familie gegründet.“

Der Tod ist in der spanischen Kultur kein grinsender Sensenmann, sondern eine schöne Frau. Der Tod gehört zum Leben wie der Schmerz zur Liebe. In fast allen Almodóvar-Filmen gibt es Menschen, die töten oder töten wollen. Mal tun sie es aus Verzweiflung und Eifersucht wie Rebecca, mal aus Leidenschaft wie Antonio und mal aus Liebe wie das unglückliche Paar Sancho und Clara. Der Kunst des Tötens hat Almodóvar seinen Film „Matador“ gewidmet. In diesem Film begegnen sich ein Mann und eine Frau, die aus Lust töten, denn „nicht mehr zu töten wäre, als würden sie nicht mehr leben“. Wie Clara und Sancho schenken sie sich am Ende den Liebestod: „Wenn man von einem außerordentlichen Vergnügen träumt und das Leben es einem anbietet, dann muß man, um es zu erlangen und Wirklichkeit werden zu lassen, auch bereit sein, einen außerordentlichen Preis zu bezahlen.“

Literatur: „Pedro Almodóvar – Filmen am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Ein Gespräch mit Frédéric Strauss. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 1998, 350 Seiten, 38DM