Heizer Hülsmann will nicht von Bord gehen

Carmen Hülsmann führt durch die Sachsen-Anhalt-Ausstellung im ehemaligen Kraftwerk Vockerode. Das Projekt der Expo 2000 ist ein Zukunfts-Versuch, das Kraftwerk war Heizer Hülsmanns Leben  ■ Von Constanze v. Bullion

Wäre es ein Schiff, dann ein Ozeandampfer. Mit riesigen Schloten und Tausenden von Menschen an Bord. Ganz oben, wo der Wind pfeift, müßte der Kapitän stehen. Doch der ist längst von Bord gegangen. Jetzt hat Carmen Hülsmann hier das Sagen, besser gesagt: das Schreien. Auf dem zugigen Dach des Kraftwerks Vockerode versteht man sein eigenes Wort kaum. „Da drüben will ich hin“, ruft die Vorarbeiterin und zeigt auf die Silhouette von Dessau, „aber bei den Stadtwerken brauchen sie keinen.“ Sie dreht sich weg, zu den Baumgruppen im Wörlitzer Gartenreich. „Die da hinten“, weiß sie, „wollen unser Werk abreißen.“ Dann schaut sie nach oben, zu den vier Schloten, und riskiert ein ironisches Blinzeln: „Wenn die fallen“, meint sie, „ist das eben das Symbol für unseren Untergang.“

Wäre das Braunkohlekraftwerk Vockerode ein Schiff, dann ein gestrandetes. 1994 haben sich hier die letzten Schlote ausgehustet. Der 12-Turbinen-Riese an der Elbe, einst stolzer Energiespender der DDR, wurde Ende 1994 vom Stromkonzern Veag abgeschaltet. Höchste Zeit, fanden die Umweltschützer. Eine Katastrophe, meinten die Anwohner. 1.500 Menschen befeuerten den gigantischen Ofen am Ende der Vockeroder Dorfstraße. Seit es keine schweflige Asche mehr auf die geduckten Backsteinhäuser regnet, liegt der Weiler im Nachwende-Koma. Dabei gibt es hier echte Schätze zu entdecken.

„Mittendrin. Sachsen-Anhalt in der Geschichte“, heißt die Ausstellung, die seit Mai bis Mitte September in Vockerode läuft – mittendrin in den Eingeweiden des stillgelegten Kraftwerks – und ganz am Anfang der Expo 2000. Sachsen- Anhalt ist Korrespondenzregion der Hannoveraner Zukunftsmesse und präsentiert, was ein Jahrhundert unerbittlicher Industrialisierung zurückgelassen hat. Die Chemieruinen von Bitterfeld und die Plattenbauten von Wolfen werden kunstvoll veredelt, eine Kranstadt und ein Biosphärenreservat entstehen: Zwei Dutzend Projekte sollen dem runtergerockten Landstrich neue Impulse geben.

„Vielleicht kommt ja mal einer vorbei, der eine gute Idee hat“, faßt Carmen Hülsmann die Pläne zusammen. Die Vockeroder Vorarbeiterin, die seit Monaten ihren früheren Arbeitsplatz zu einem Museum umbaut, mag keine großen Worte. Dabei kann die resolute Dame Geschichten erzählen, die die historische Nabelschau erst zu dem machen, was sie sein sollte: ein Fenster in die Zukunft für alle, die hier schon vor der Wende gelebt haben. „Unsere Werkhallen waren für die Leute das Allerheiligste, wer hier nicht gearbeitet hat, durfte sie nie von innen sehen“, weiß die gelernte Mechanikerin, die vor 25 Jahren im Kraftwerk „Elbe“ anfing. „Heizer“ nennt Carmen Hülsmann sich, das Wort „Heizerin“ würde ihr nie über die Lippen kommen.

So wenig wie den übrigen Arbeiterinnen, die in Vockerode Knochenarbeit verrichteten. „Unser Frauenanteil war sehr hoch, so was wollte doch kein Mann machen“, sagt Frau Hülsmann und stiefelt eine steile Treppe hinauf. Walzenbrecher und Kohlenmühlen und furchteinflößende Trichter sieht man rund um die monumentale Turbinenhalle. NS-Architekten haben hier ihre Handschrift hinterlassen, das Werk wurde 1937 als Rüstungsbetrieb gebaut. 1946 demontierte die Rote Armee den Koloß, zu DDR-Zeiten rekonstruierte man ihn doppelt so groß. Wer sich vorstellen möchte, „wie das hier laut war und gepfiffen hat“, sollte Heizer Hülsmann fragen. Anfangs sei es ihr „schon unheimlich gewesen“.

Kein Wunder eigentlich. Wie ein schwarzer Schlund verschluckt das Kesselhaus seine Besucher, zwischen verkrusteten Leitungen und schweren Meßuhren reißen zwölf Kessel ihre garstigen Mäuler auf. Wer sich reintraut in die Hölle, auf deren Grund bei 1.100 Grad Kohle verglüht wurde, findet jetzt Perlen und Juwelen.

In Vitrinen liegen kunstvoll verzierte Kruzifixe, daneben die handschriftliche Urkunde, mit der Kaiser Otto I. 968 das Erzbistum Magdeburg gründete. In zwölf Abschnitten, untergebracht in den zwölf Kesseln, präsentiert Sachsen-Anhalt sich als Grenzregion zwischen Ost und West, zwischen Mission und Reformation, aber auch als Land von Rüben, Rüstung und Realsozialismus. Kuriositäten gibt es zu entdecken, etwa das Damenklo vom Bauhaus Dessau oder „vier Glasscherben aus dem Prämostratenserkloster Jerichow“.

Diese Vitrinen voller Kostbarkeiten hat man in eine Welt verpflanzt, in der für Schöngeisterei nie Raum war. „Ich dachte, das klappt nie“, erzählt Frau Hülsmann, als man ihren Kesseln Gitterböden einzog. Zusammen mit „den Jungs“, fünf Ex-Kraftwerkern, hat sie Schutt geschippt und Vitrinen für 1.500 Exponate gebaut. Doch, stolz ist sie schon. Aber wenn sie in die Kessel schaut, sieht sie hinter dem Geglitzer noch immer, was sie früher sah: die Menschen, die hier Schlacke von den Wänden kratzen mußten.

Oder durften? Je länger die Wende zurückliegt, desto gnädiger wird Frau Hülsmanns Blick. „Früher flog weniger Dreck auf meinen Küchentisch als heute von der Autobahn“, sagt sie etwa zum Thema Umweltverschmutzung. Dabei war das Kraftwerk „Elbe“ mit seinen 120 Tonnen Flugasche pro Tag und Schwefeldioxid-Emission jenseits aller Grenzwerte eine der übelsten Dreckschleudern der DDR. „Ist es denn wirklich notwendig, daß derartige Mengen schädlicher Stoffe abgelassen werden“, beschwerte sich ein Nachbar aus Leuna schon 1978 bei Walter Ulbricht und legte seiner Eingabe verätzte Pappelblätter der Region bei.

Daß man dem Qualm nicht beikam, lag unter anderem an der miserablen Braunkohle. Das Zeug war extrem wasserhaltig und verkochte in den altersschwachen Maschinen zu „Schlackebrücken“, die gesprengt werden mußten – mit der Brechstange in der Hand. „Die sind alle nicht mehr gesund geworden“, erinnert sich Carmen Hülsmann und zeigt zwischen Lutherbildern und Seidenstühlen in die Tiefe. Regelmäßig kletterten früher Aufräumtrupps in den abgeschalteten Kessel. „Das war eine Arbeit für einen, der Vater und Mutter erschlagen hat“, sagt die Vorarbeiterin, die nie vergessen wird, wie man zwei Söhne einer Vockeroder Familie hinunterschickte. Als jemand versehentlich die Maschinen anwarf, konnte ein Bruder sich noch retten. „Aber der Kleene von Richters“, erzählt sie, „ist in der Flugasche verbrannt. Das war fürchterlich.“

Schwere Unfälle waren in Vockerode die Ausnahme, kleine Mißgeschicke dagegen an der Tagesordnung. So fiel im Werk die Wasserkühlung aus, wenn die Nachbarn ihre Gärten sprengten. Da waren die Karpfen, die man im warmen Abwasser hinterm Werk züchtete und die „wie wild wuchsen, bis sie keiner mehr essen wollte“. Nicht zu vergessen die Ölhavarien, bei denen „dieser ganze klebrige Kleister übergelaufen ist, und wir mußten alles wegschaufeln“. Schlimme Arbeit sei das gewesen, aber manchmal, sagt Carmen Hülsmann, „haben wir ewig darüber gelacht“.

Kann man so eine elende Plackerei mögen? Kann man einem Job nachtrauern, der oft nur öde Routine war? Man kann. Heizer Hülsmann blüht zwischen den Hebeln der Leitstelle richtig auf. Das „Herz der Anlage“ nennt sie den Glaskasten, von dem aus sie „drei Kessel gefahren“ hat. Eine echte Auszeichnung übrigens, sie habe sich „hochgekämpft“, erzählt die Tochter einer Landwirtin und eines Elektrikers. Sie selbst hat eine zwölfjährige Tochter, Stefanie, die sie allein großzog, ohne sich dafür je aus dem Werk zurückzuziehen. Offenbar können auch Aggregate so etwas wie eigene Babys sein.

Jeder Kessel hat seine eigene Note, der eine ist robuster und der andere empfindlicher“, erklärt sie einem Ehepaar aus Thüringen, das etwas ratlos durch die Ausstellung irrt. Daß nirgends erklärt wird, wie das Kraftwerk arbeitete, bedauern viele Besucher. Sämtliche Turbinen der großen Halle sind in der Schrottmühle gelandet, von der früheren Belegschaft finden sich nur wenige Fotos. In all der katalogisierten Geschichte, zwischen 1.500 originell drapierten Kostbarkeiten, sind die Menschen verschüttgegangen. Haben die Wessis von der Expo die Ossis „mittendrin“ vergessen? „Da ist ein gewisses Defizit geblieben“, räumt Ausstellungskoordinatorin Ursula Breymayer ein. „Für die Leute aus der Region ist das Kraftwerk die eigentliche Sensation, das haben wir nicht rechtzeitig erkannt“, gibt auch Expo- Sprecherin Andrea Seibel zu. Sie ärgert sich über die mageren Besucherzahlen, die die Schau tatsächlich nicht verdient hat.

„Viele Leute sind so verbiestert, die gucken sich das gar nicht an“, hat indes Carmen Hülsmann von Nachbarn erfahren. Bei aller Sentimentalität, das ist ihr zuviel. „Man kann sich nicht so hängenlassen“, schimpft sie und stapft am Ende der Tour den „Weg der Kohle“ hinauf. Entlang der alten Förderbänder kommen Besucher bis aufs Dach des Kraftwerks – und begreifen schlagartig, worum es in Vockerode heute geht.

Wäre es ein Schiff, dann ein gestrandetes, das alte Kraftwerk liegt mitten in den Dessauer Elbauen und hart vor den Toren des Wörlitzer Gartenreichs. Die Parkanlage aus dem 18. Jahrhundert wird derzeit vorsichtig restauriert. Wenig begeistert sind die Landschaftsschützer da vom Erhalt eines maroden Industriedenkmals, vom neuen Spannbetonwerk in Vockerode und dem Gewerbezentrum, das der Bürgermeister ansiedeln will. „Wir wollen das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, aber man kann nicht alles nur unter dem Aspekt der Arbeitsplätze sehen“, sagt Thomas Weiß, Leiter der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz. Ihn würde es „schon freuen, wenn die Schornsteine fallen“.

Carmen Hülsmann will das nicht gehört haben. Was wäre Vockerode ohne Schlote, was ihr Leben ohne Werk? „Ziemlich komisch“ fand sie es anfangs, ihren Arbeitsplatz zum Museum zu machen. Noch komischer wird es, alles wieder abzuräumen. Ende Dezember läuft ihr Expo-Vertrag aus, was kommt, ist ungewiß – auch für Vockerode. Das Dessauer Bauhaus steuert einen Kompromiß zwischen Mensch und Natur an, „industrielles Gartenreich“ nennt sich das. Und weil der Abriß des Werks Millionen kosten würde, hoffen auch die Hausherren vom Stromkonzern Veag auf eine „wirtschaftlich rentable Nachnutzung“. Ausstellungen werden da nicht reichen. „Aber vielleicht“, sagt Carmen Hülsmann, bevor sie nach Hause radelt, „vielleicht kommt ja mal einer vorbei, der eine gute Idee hat.“