Der Retter aus Görlitz

Im morgigen WM-Spiel gegen Jugoslawien wird nicht nur allein von Jens Jeremies weiter fleißig an der Jeremiesierung des deutschen Fußballs gearbeitet  ■ Von Peter Unfried

Da wo der Osten zu Ende ist oder ganz nach Betrachtungsweise eigentlich erst anfängt, da irgendwo muß wohl Görlitz sein. Genaueres weiß kaum einer. Man darf annehmen, daß die wenigsten den Ort jemals wirklich gesehen haben; schließlich leben die meisten ganz woanders. Ist ja jetzt auch egal. In dieser Stadt jedenfalls sitzt ein Rentner namens Günter vor dem Fernseher. Dieser Rentner hat drei Söhne. Der jüngste Sohn ist dazu ausersehen, Deutschland zu retten. Sein Name ist Jens. Jens Jeremies (24).

Die Frage aller Fragen ist nun aber nicht: Kann dieser Jeremies nach seiner Sprunggelenksverletzung morgen in Lens gegen Jugoslawien (14.30 Uhr, ZDF) spielen? Erstens ist dieser Mann unüberraschenderweise „von der Hüfte ab absolut schmerzunempfindlich“ (DFB-Masseur Schmidtlein). Zweitens hat nach zwei Wochen in Nizza auch der letzte verinnerlicht, daß es „nicht auf die Aufstellung ankommt, sondern die Einstellung“ (Vogts).

Ob nun Helmer, Hamann oder Häßler spielt: Die Einstellung muß Jeremies sein.

Ist es wirklich schon wieder soweit? Sieht so aus. Vor zwei Jahren war der deutsche Fußball Eilts, jetzt ist er auf der Autobahn zur Jeremiesierung. Die Sache wird schnell vorangetrieben. Das liegt daran, daß WM ist, es zweitens ein Bedürfnis, drittens ein Vakuum gibt.

Jeremies ist ein Profifußballer, dessen Arbeit sehr verbesserungswürdig ist. Sagt er selbst. Der auch mal „eine gute Vorlage geben“ oder gar „einen Abschluß finden“ müßte. Die Fähigkeit, Vorlagen zu geben, Tore zu schießen, waren bekanntlich einmal der Wertmesser für einen Fußballer.

Was Jeremies kann – ist beißen. Mit dieser Qualität hat sich der Sohn des sächsischen Rentners nun aufgemacht, den erschlafften Wirtschaftsstandort deutscher Fußball zu retten.

Sein Polier Klinsmann sagt über ihn: „Er arbeitet hervorragend.“ Über welchen anderen deutschen Arbeiter kann man das denn heute noch sagen? Und insbesondere: Über welchen ostdeutschen Arbeiter?

Bei der EM 1996 war es der Dresdner Matthias Sammer, dank dessen Qualitäten seine westdeutschen Kollegen am Ende den Pokal stemmen durften. Sammer brachte das existentielle Moment ein. Nun soll es der Görlitzer Jeremies sein, der selbst Andreas Möller klarmacht, daß Fußball kein Spiel ist.

Warum muß einer vom Rand des Ostens kommen, dem in Routine erstarrten West-Fußball Dampf zu machen? Was sagt das über das Land, das mehrheitlich glaubt, alles werde gut, wenn man verbrauchte Westdeutsche losschickt, dem schon immer müden Osten das Einmaleins beizubringen? Gute Fragen.

Einfacher zu beantworten ist: Was genau bringt Jeremies ein? Das beste Beispiel: Vor Klinsmanns Treffer zum 2:0 gegen die USA hatte Jeremies einem aller Wahrscheinlichkeit nach verlorenen Ball mit ungeheurem Biß zurückgeholt. Der zwischenzeitliche wuchtige Aufschlag des Leders auf seinem Körper irritierte Jeremies keine Zehntelsekunde. Er schützt seinen Körper nicht, er setzt ihn ein.

Eine „Supersache“ sei das gewesen, sagte Kollege Jürgen Kohler gestern anerkennend, wie er „innerhalb von 30 Sekunden mit drei Press-Schlägen das Tor ermöglichte“. Da kommt selbst er nicht mehr mit, obwohl er sich mit vollem Einsatz aus sehr einfachen Verhältnissen im unschöneren Teil Mannheims emporgearbeitet hat.

Wenn man Jeremies fragt, warum er in Paris Energie in diese Aktion investiert hat, muß er lachen. Dann überlegt er. Dann sagt er, das könne er „eigentlich nicht genau sagen“. Er kann sich aber erinnern, daß sein Chef die Truppe in der Arbeitspause aufgefordert hatte, auch „den Bällen nachzusetzen, die verloren waren“. Jeremies versucht nämlich nicht nur „auf dem Platz alles zu geben.“ Er macht es tatsächlich — und das ist der Unterschied.

Im Leben ist Jeremies ein sich unauffällig gebender Mann mit Jesus-Frisur, Ziegenbärtchen und Mercedes SLK. Er wurde erzogen bei Motor Görlitz und in der Kinder- und Jugendsportschule Dresden. Er spricht schnell und schludrig und auch nach vier Münchner Jahren in starkem ostdeutschem Idiom. Gegen den Dressman Bierhoff, den Rhetoriker Thon wirkt er wie ein – Fußballer?

Kann so einer gesamtdeutscher Held werden? Oder gerade deswegen? Fest steht: Einer muß es ja tun. Was die Resonanz im Ausland betrifft, wird man dort seinen Argwohn über die deutschen Maschinen, Panzer und Rasenmäher nur aufs neue bestätigt sehen.

Andererseits: Ist das der Stand der Dinge im Weltfußball. Auch gibt es keinen überragenden Kreativspieler, dem man huldigen könnte. Und ehrlich: Wäre man in England und Frankreich nicht erst richtig beleidigt, wenn die Deutschen mit einem Netzer daherkämen und Fußball zelebrierten? Nein, es ist, wie es ist. Es ist, wie Berti Vogts gestern gesagt hat: „Der Kampf, der Kampf, der Zweikampf gehört mit dazu zu unserem schönen und geliebten Spiel.“

Daß er Jens Jeremies vor Augen hatte, ist klar. Ungeklärt ist unter den Zeugen bloß, ob ihm dabei die Tränen in die Augen schossen – oder doch nicht.