■ Schwitzen in Scheeßel
: Massen Mensch & Musik

Zärtlich und wellig wie Yin und Yang schwingen dunkelrote Farbe und Weiß in eins. Wo? An den Seitenwänden des 3.000-Personen-Zelts beim Hurricane-Festival. Das Zeltdach hätte die freie Auswahl: Rot oder Weiß. Und was geschieht? Die dunkle, weibliche Urkraft setzt sich wieder mal durch. Mit katastrophalen Folgen. Kaum hat sich die letzte Wolke vom Himmel verabschiedet, herrschen saunaartige Zustände. Ein moderner Sisyphos kübelt kaltes Wasser aufs Dach. Umsonst.

Der Kohlendioxydgehalt sprengt die Grenzwerte des Kiotoer Umweltgipfels. Die Luftfeuchtigkeit nähert sich der eines Aquariums. Schöne und häßliche glänzende Oberkörper tauschen ihren Schweiß aus. Hoffentlich hat der Nachbar keine Schuppenflechte. Nur die körperlich Fitesten oder seelisch Fanatisiertesten schlagen sich zu ihren Helden nach vorne durch. Singen „Die Sterne“ da nicht gerade ganz passend eine Hymne an das Durchhalten?

Open Air ist also wieder mal eine Abfolge von Katastrophen. Seßhafte Menschen, die sich nach gründlichen strategischen Betrachtungen einen Platz in sicherer Entfernung vom Bühnentrubel wählen, müssen erleben, wie ihre Marlboro-Schachtel platt getreten wird – von Flaneuren, privaten Pfannkuchenorganisatoren oder offiziellen Brezelverkäufern. „Oh, sorry.“ Auch müssen die Niedergestreckten fertigwerden mit dem Anblick von Waden – tätowierten, neurodermitisverwüsteten oder außerordentlich wohlgeformten; Sechzigtausenderlei verschiedene Abmessungen soll es hier geben!

Die Wanderer dagegen werden von Seßhaften mit Wasserpistolen bespritzt. Mit unterschiedlichen Auswirkungen. Minimal-Künstler antworten mit einem knappen, präzisen „Arschloch“. Menschenfreunde ziehen ihr T-Shirt hoch, räkeln sich anmutig im kühlen Naß und segnen den edlen Spender: „Danke. Mehr. Oh! Wie tut das gut.“ Der Wasserpistoleninhaber könnte nach einem arbeitsreichen Spritztag eine ausgefeilte Anthropologie verfassen.

Natürlich wollen Sie Wesentlicheres wissen über die Wiesenveranstaltung. Also zum Lieblingsthema deutscher Open-air-Berichterstattung, der Toilettenfrage. Dumme, welche die Hauptklos nutzen wollten, mußten sich in eine fünf-Meter-Schlange reihen. Alle anderen entdeckten zwischen den zwei Bühnen jede Menge leerer Plastikhäuschen.

Fehlplanung gab es nur an einem einzigen Ort, dem Presseschalter. Eine geschlagene Stunde mußten die Vertreter von Winz-Privatradios und obskuren Fanzins warten zwischen den fliegenumsurrten Bergen schnell noch leergesoffener Bierdosen, die traditionellerweise die Festivaleingänge verzieren. „Das wird sich in meinem Text niederschlagen“, drohte ein Bertold Superwichtig. Wäre es aber nicht richtiger in dieser Mißachtung der Presse Anzeichen kommender Umstürze zu sehen? Der Securitymann aus Ossiland freut sich jedenfalls mit Recht.

Revoluzionäres konnte auch all jene erleben, die sich Höhe „Nudelspezialitäten“ niederließen. Nicht weniger als die Geburt einer neuen Musikgattung. Die Klangwellen aus großer und kleiner Bühne verschmolzen nämlich zu innovativer Polyphonie. Die heftigen Rhythmen von „Notwist“ ergaben einen dunklen Bodensatz unter dem Wonnepathos von Matchbox 20. „Die Sterne“ blinkten gelassen zwischen den Exaltationen von Guano Apes. Ach. Eigentlich war' s wunderschön. bk