: Wild gewordener Schwager aus dem Osten
„Auf der Politik kenn' ich mich nimmer aus“: Frank Castorf inszeniert eine Textauswahl des radikalen Dichters Johann Nepumuk Nestroy am Burgtheater und gibt in Wien ansonsten den romantischen Rebellen – eine Posse mit Gesang und mäßigem Vergnügen ■ Von Uwe Mattheiß
Bisweilen macht Wien sogar müde Berliner wieder munter. Zu Hause an der Volksbühne einbetoniert bis ins Jahr 2002, zelebriert Frank Castorf kokett-genervt eine Art von postrevolutionärer Langeweile, kuriert sein Künstlertum wieder an traditionelleren Theaterästhetiken und spottet der Sorgen seiner Lieblingsfeinde von der liberalen Bourgeoisie, indem er sie teilt. Immobilien zählen statt Straßenkämpferattitüde.
In Wien dagegen wurde Frank Castorf noch als „Theaterwilder“ und „Stückezertrümmerer“ von Interview zu Interview weitergereicht. Claus Peymann hatte nach Jahren der Stagnation im Burgtheater ihn und Einar Schleef engagiert, um seine letzten Wiener Spielzeiten aufzuputschen. Castorf präsentierte er gleichsam als den wild gewordenen Schwager aus dem Osten. Der hat brav mitgebrüllt, gegen den westeuropäischen Konsenskapitalismus gewettert und ein paar politisch unkorrekte Wuchteln geschoben.
Er spekulierte darüber, wie es wäre, wenn mal ein paar Glatzen in den Toskana-Villen der Herren Stein und Zadek vorbeischauen würden. Hat, wenn auch nur im Interview und im übertragenen Sinne, Luc Bondy für sein impressionistisches Seelenforschungstheater ins offene Cabriolet gespuckt. Die Wiener Kulturschickeria genießt es, daß ihnen endlich mal wieder jemand die Kapuzinerpredigt hält und ihre Verrottung im „Wiener Luxus“ vor Augen führt. Kann man Revolutionäre eigentlich streicheln, oder beißen sie? Den letzten, den sie hier hatten, haben hundertfünfzig Jahre Theaterpraxis lieblich und zahnlos gemacht: Den Dichter Johann Nepumuk Nestroy wollten die Wiener mit Castorfs Hilfe wiederentdecken.
Wien ist anders. Die Ostöffnung macht sich hier nur durch ein paar slowakische Nummernschilder im Straßenverkehr bemerkbar. In Bratislava kann man billig einkaufen, in Ungarn lassen die Wiener sich günstig ihre Zahnkronen anfertigen. Der Herr hat dieser Stadt ein geruhsames Leben beschieden, aber es ihr genauso gut wieder nehmen können. Bange und doch fasziniert schaut Wien daher auf Berlin, auf die Turbulenzen, die das widerwillige Zusammenwachsen zweier Städte und zweier Lebensauffassungen mit sich bringt.
Bei aller Exotik ist es hier von Vorteil, nicht westdeutsch zu sein. Im entschieden weniger amerikanisierten Land deutscher Zunge gibt es sensible Ohren für die Vorbehalte der Verlierer gegen die schöne neue Nato-Welt Europas. Die österreichische Neutralitätsideologie erwies sich als guter Resonanzboden für Castorfs antiwestliche Ressentiments. Theatermacher mit ostdeutschem Hintergrund erfahren aber auch ohne Politfolklore ausgesprochen innige Liebe: Wolfgang Engel, Leander Haußmann, Einar Schleef und Castorf – sogar schon vornweg – wurden an der Burg gefeiert. Schleef steht in Wien seit dem „Sportstück“ im Rang eines Popstars. Zur Castorf-Premiere ereilte ihn eine Schar Anhänger und nötigte ihn, auf den Außentreppen des Burgtheaters fleißig Autogrammkarten zu unterschreiben. Zur Party im Vorfeld gab's dann auch Theater. Castorf nahm Nestroy-Texte und machte aus dreien einen: „Freiheit in Krähwinkel“, die vielgespielte Revolutionskomödie, und zwei weniger bekannte Texte „Der alte Mann mit der jungen Frau“, eine bittere illusionslose Betrachtung aus der Nach-48er-Reaktion, und „Häuptling Abendwind“, eine Karnevalsgroteske um angebliche Menschenfresser in der Südsee, die Chauvinismus und Kriegstreiberei der europäischen Nationen aufs Korn nimmt. Das Destillat: „Kräwinkelfreiheit“, ein dramaturgisch gut argumentierter Dreischritt von Revolution, Reaktion und visionärer Vorwegnahme der Entsublimierungen des 20. Jahrhunderts, von Nationalismus und Menschenschlächterei.
Gerade die weniger bekannten Nestroy-Texte sind für Entdeckungen gut. So zynisch, so direkt war der Schani sonst selten. In Nestroy treffen sich Höhe der Form, politische Radikalität und illusionslose Menschenbetrachtung. Der „politische Nestroy“, den die Germanisten schon lange einfordern, soll endlich am Theater realisiert werden. Castorf weiß ihn zu bedienen. Es ist sein unbestrittenes Verdienst, mit österreichischen Schauspielern auf östereichisch gearbeitet zu haben, ohne daß die Sache allein der Sprache wegen ins Volkstümelnde abgleitet. Doch das ist weniger sensationell, als es Peymann angekündigt hat. Für Nestroy wurde in seiner Direktionszeit bislang nichts getan. Es gab jahrelang zu Nestroy nur die Zuckerbäckereien seines Vorgängers Achim Benning. Castorf rannte zumindest in seinem Textverständnis offene Türen ein.
Was zu sehen ist, läßt sich anschauen. Lauter Wiener Hausmeister stolpern über die Bühne. Nach detaillierten Feldforschungen in der Wiener Vorstadt hat Castorfs Ausstatter Bernt Neumann den Krähwinkler Spießern nicht nur Hut, Hosenträger und Kassenbrille verpaßt, sondern auch gleich den „Backhendlfriedhof“ unters Hemd geschnallt. Mit der Wiener Küche ist keine Revolution zu machen. Selbst der Radikale Eberhard Ultra (Nicholas Ofczarek) ist nur ein nasenbohrender Gymnasiast mit Bauchansatz. Also doch Stahlgewitter (Ost)? Nicht wirklich. Seine Darsteller Branko Samarovski, Hanno Pöschl, Hermann Scheidleder, Hermann Schmid agieren in Wiener Spielwut und unwienerischer Präzision. Anja Kirchlechner und Elisabeth Pejcinoska zeigen wunderbare Hysterikerinnen, die das dumpfe Männerklima hin und wieder durcheinanderwirbeln.
Bis zur Pause ist „Krähwinkelfreiheit“ besseres Castorftheater, weil Nestroy-Theater besseres Castorftheater ist. Seine Mittel sind beim alten Komödianten zum Teil schon vorgefertigt: ironisches Zitieren anderer Texte, privat scheinendes Extemporieren, Kommentierungen der eigenen Rolle durch die Schauspieler. Übliche Collagearbeiten: Franz Jungs satirisches Plädoyer „Für die Wiederherstellung der Sklaverei“ als Kritik an der alle moralischen Bindungen aufhebenden Anonymität der Marktgesellschaft. Und dann noch eine Kopfnuß fürs gewohnte Links-rechts-Schema. Eberhard Ultra spricht plötzlich die Worte Jörg Haiders zur 48er Revolution. Ja, die revolutionäre Gewalt – steht sie rechts von uns oder links? Castorf möchte auch in Wien die linksliberale Bourgeoisie vor der DVU zittern sehen und grinst sich eins dabei. Nachzutragen sind noch ein paar individualanarchistische Mätzchen, aber die sind läßlich. Schließlich hat jeder Burgtheaterabonnent schon einmal davon geträumt, MG-Salven auf das Haus abzuschießen.
Zu späterer Stunde der Absturz in Form und Inhalt. Die Textdekonstruktionen verlieren ihre Schlüssigkeit und Nestroys Qualität. Nur noch naseweises Herumdoktern auf fadenscheinige Pointen hin. Und nicht zu vergessen: die Castorfpredigt. Ja, wir wissen es. Besser-Ossi sagt's uns immer wieder: Die reformistische Linke ist auf dem Holzweg, wenn sie ihren Frieden mit dem Kapitalismus und der Nato macht. Erst hat der Westen Jugoslawien zerschlagen, und jetzt ist Albanien dran. Berichte vom grausamen Balkan klagen die Hartherzigkeit Schengenlands an. Hat sein Hauskatholik Christoph Schlingensief ihn zur Caritas bewegt, oder geht es doch nur um kokette Schockwirkungen?
Auf die moderierenden, friedensstiftenden Institutionen des bürgerlichen Staates, auf die selbst die postkommunistische Linke in Ermangelung einer revolutionären Perspektive vertraut, darf mit Leidenschaft geschissen werden. Was Castorf treibt, ist Dialektik der Aufklärung ohne Dialektik. Wenn die zivilisatorischen Errungenschaften des Jahrhunderts schon nicht halten, was sie versprechen, gehört dann ihnen der Untergang? Wir treffen uns wieder bei Häuptling Abendwind im Suppentopf und trinken auf den Untergang des Abendlandes.
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