Flucht vor der Wirklichkeit

■ Mit einem Hammer hat ein 41jähriger seine Partnerin getötet, jetzt steht er vor Gericht

„Ich bin Ingolf G., ich habe keine Adresse“, beginnt einer der vielen Abschiedsbriefe, die der Angeklagte irgendwann in der Zeit zwischen dem 17. und 23. Dezember geschrieben haben muß. Die drei Selbstmordversuche, die Ingolf G. in dieser Zeit unternahm, waren wahrscheinlich die letzten von zu vielen Versuchen, der Wirklichkeit zu entfliehen.

Die Wirklichkeit, sie lag sechs Tage lang in der Wohnung, die der Angeklagte nach der Tat nicht verließ: mit unzähligen Hammerschlägen hatte er seine Lebensgefährtin Sonja T. getötet und sie im Wohnzimmer liegen gelassen. Jetzt muß er sich vor dem Landgericht wegen Totschlags verantworten.

Die Wirklichkeit: So wie Ingolf G. sie darstellt, scheint sie eine Sache zu sein, der er immer entfloh.

Die erste Flucht vor der Wirklichkeit, so erzählt er mit nuschelnder Stimme und schnellen Sätzen, nahe am Mikrofon, sie war schon lange der Alkohol. Bei Problemen in der ersten Ehe oder während der Arbeitslosigkeit flüchtete er in den Rausch. Nach einem Umzug von Berlin nach Bremen fand er eine neue Partnerin, Sonja. Ein erster Versuch des Zusammenlebens scheitert, wegen Alkohol. Ingolf zieht zu seinen ebenfalls nach Bremen gekommenen Eltern in eine Zwei-Zimmer-Wohnung, übernachtet im Wohnzimmer, sucht wieder Kontakt zu Sonja, hört auf zu trinken.

Doch der Realität stellt sich Ingolf wieder nicht. Eine Lebenslüge entsteht. Ein Haus habe er geerbt, will er Sonja erzählt haben, die das geglaubt haben soll. Er sagt spontan zu, als sie zu ihm ziehen will. Sie kündigt ihre Wohnung, die Nachmieterin steht bald fest. Ingolf G. gerät in Zugzwang, zögert die Beichte heraus, kümmert sich nicht um Alternativen.

Erst am Wochenende vor dem Umzugstermin, vor der Tat, will er ihr alles gesagt haben, als Ausweichquartier die Wohnung der Eltern anbieten, die davon nichts wußten. Dazu kam es nicht mehr. Fern jeder Lebenspraxis warten beide, bis die Nachmieterin drei Tage später buchstäblich mit dem Möbelwagen vor der Tür von Sonja T.'s Wohnung steht, um einzuziehen. Ingolf G. will sie mit Lügen abwiegeln, sie bleibt hartnäckig. Er hat nicht den Mut zur Wahrheit. Geht in die Wohnung, um die Habseligkeiten zusammenzupacken, während die Nachmieterin ihre ersten Sachen holen will.

In der Wohnung eskaliert die Situation. Sonja T. habe ihn angegriffen, sagt der Angeklagte. Ein Hammer ist in seiner Hand. Er schlägt zu. Danach will er sechs Tage lang in der Wohnung dahinvegetiert haben, mehrere Selbstmordversuche unternommen haben.

Erinnern kann er sich angeblich an fast nichts mehr – eine Frage, die nun das Gericht klären muß. Am Tag vor Weihnachten ruft er die Polizei an und stellt sich.

Der Prozeß wird fortgesetzt. cd