■ Vorlesungskritik
: Streit der Gerechten

Nur ein einziger Zuhörer hatte überhaupt nichts verstanden. „Herr Professor, darf ich mal fragen, wo Sie gelebt haben?“, unterbrach er den Referenten. Allen anderen war sofort klar, daß der Psychologe Leo Montada aus dem tiefsten Westen kam – zu abgeklärt referierte er in Berlin über „Gerechtigkeitsansprüche und Ungerechtigkeitserleben in den neuen Bundesländern“. Montada leitet zwar seit ein paar Jahren das Potsdamer Zentrum für Gerechtigkeitsforschung, sonst lehrt er aber am westlichen Rand der Republik, in Trier.

Daß Gerechtigkeit immer eine „soziale Konstruktion“ sei – mit derlei Abstraktionen ist der ostdeutschen Empörung wohl nicht beizukommen. Schon eher mit der Erkenntnis, daß eine „Population“ Ungerechtigkeiten um so eher akzeptiert, je länger sie daran gewöhnt ist. Acht Jahre reichen dafür offenbar nicht aus. Jedenfalls glauben die gelernten DDR-Bürger, die Montada für seine Studien befragen ließ, in zehn von zwölf Lebensbereichen gebe es heute weniger Gerechtigkeit als im Realsozialismus. Die einzigen Gewinner sind Demokratie und Pluralismus, die in der Skala der politischen Grundwerte im Osten jedoch auf den untersten Plätzen rangieren. Die Sicherheit vor Arbeitslosigkeit, Verbrechen und Krankheit hingegen habe abgenommen, glaubt der Durchschnitts-Ostler.

Montada scheint an den Ergebnissen seiner eigenen Studien zu verzweifeln. „Ich begreife es nicht“, gesteht er. Selbst auf dem Arbeitsmarkt sieht Montada keine schreiende Ungerechtigkeit. Schließlich habe die Erwerbsquote im Osten bei üppigen 90 Prozent gelegen, im Westen hingegen rangiere sie bei mageren 62 Prozent. Würden im Westen alle Langzeitstudenten, Hausfrauen und Teilzeit-Jobber statt Uni und Herd das örtliche Arbeitsamt frequentieren, wie es ihre Leidensgenossen im Osten tun, bräche unser Sozialsystem zusammen, glaubt Montada.

Kaum hatte der Gerechtigkeitsforscher die Diskussion eröffnet, brach ein Sturm der Entrüstung über ihn herein. Die östliche Hälfte des Publikums fühlte sich ungerecht behandelt. „Wer hat denn diese Umfragen bezahlt?“, moserte ein älterer Herr. Daß Montada versicherte, er habe „alle Regeln der Kunst eingehalten“, konnte ihn nicht beruhigen: „Dit bestreite ich.“

Mit der Zeit gerieten die Fronten doch noch durcheinander. Eine Frau aus dem Westen beschwor den menschlicheren Osten, wo sie sich als Putzfrau besser behandelt fühle. „Mir geht's viel besser als vorher, obwohl ich sogar Mitarbeiter im Ministerium war“, sagte ein Mann aus dem Osten.

Die Gerechtigkeitsansprüche seines Publikums konnte Montada trotzdem nicht befriedigen. Als er die Debatte dem Hausmeister zuliebe nach zweieinhalb Stunden beenden wollte, erntete er Protest: „Unsere neun Mark Eintritt haben wir aber noch nicht abgesessen!“ Ralph Bollmann