Und die Kroko-Pumps aus dem Abrißhaus

Beim Hallenser Theaterfestival „Freiwild“ läuft ein Aktionskünstler 24 Stunden durch Halle und sammelt ein, was er findet. Ein Stadtrundgang, der den Einheimischen ganz fremd vorkommt  ■ Von Anja Philipp-Kindler

Eine blaue Motorölflasche liegt plattgewalzt auf einer vielbefahrenen Straße nahe Halles Hauptbahnhof. Ein dunkelhaariger Mann läuft auf sie zu, zieht bedächtig mit weißer Kreide einen Kreis um sie. Dann steckt er das Plastikknäuel in einen Müllbeutel und schlägt einen Stahlnagel in die Fundstelle. Den Kopf des Nagels malt er mit rotem Filzstift an. Fertig. Er zupft gedankenverloren seinen schlabberigen schwarzen Anzug zurecht, kritzelt Fundort und Uhrzeit auf ein Etikett, klebt es auf den Beutel und läßt diesen in seiner riesigen grünen Reisetasche verschwinden.

Der Mann, der die Motorölflasche eingesammelt hat, heißt Thomas Hauck, und das, was er da tut, ist Kunst – Teil einer Performance. Hauck, in Ludwigshafen geborener Regisseur, Autor und Schauspieler, steht jetzt, am Dienstag um zehn Uhr morgens, erst am Anfang seines Projekts. Sein Ziel: 24 Stunden durch Halle/Saale laufen, um Gegenstände zu sammeln.

Hauck ist einer der Künstler, die bei dem Avantgarde-Theaterfestival „Freiwild“ angeheuert haben. Zum dritten Mal hat ein fünfköpfiges Veranstalterteam um den Hallenser ,Sprechwissenschaftler‘ Ralf Wendt Klangkünstler und Selbstdarsteller aus aller Welt nach Halle geholt. Hauck, der sein Geld hauptberuflich als Schauspieler verdient, macht keine bizarr klangverstärkten Geräusche wie Fred Frith aus Chicago oder bietet sich im Stadtzentrum schinkenbeklebt zum Essen an, wie Performance- Kollegen aus Frankreich. Er verwirrt sein Publikum, indem er Dinge sammelt.

„Ich bin ein überaus neugieriger Mensch“

„Ich bin ein überaus neugieriger Mensch, deshalb mache ich das“, sagt Hauck. „Und natürlich will ich auch meine eigenen Grenzen austesten.“ Dem Wahnsinn nahe war der 40jährige zuletzt vor ein paar Wochen in Basel, wo er sich im Rahmen eines Wahrnehmungskongresses 96 Stunden lang einmauerte und die Mauersteine beschriftete. Da fragte er sich irgendwann, „warum ich diesen Schwachsinn überhaupt mache“. Da es noch mehr Menschen gibt, die sich das fragen, hat Hauck zwei Begleiter bei sich. Primo Mazzoni, ein Künstler aus Basel, begleitet die Tour mit der Kamera, der Gießener Paul Hess mit dem Tonband.

Am Abend vor dem Start, Lagebesprechung in einer Kneipe. Der erste Eindruck von Halle? „Klasse, faszinierend. Dieses Neue neben dem Alten. Man sollte die alten Häuser so lassen, wie sie sind“, meint Hauck, der abwechselnd im beschaulichen Münster oder im ordentlichen Basel wohnt.

Am Morgen dann Start im Hauptbahnhof. Um den Riebeckplatz, ein wirrer Kreisel aus Auto- und Straßenbahnchaos, gruppieren sich abgewrackte Plattenbauten. Nur das Maritim, das ehemalige Inter-Hotel, wurde mittlerweile erneuert. Es gibt einen Fußgängertunnel. Doch Tunnel, Ampeln oder sonstige Einrichtungen, die Fußgängern das Leben erleichtern sollen, scheint Hauck nicht zu schätzen. Er nimmt den direkten Weg. Und der führt auf die Hochstraße über dem Verkehrskreisel. Diese Straße ist nur für Autos gedacht. Doch auch hier kann ein wichtiges Fundstück liegen. Also im Gänsemarsch am Geländer entlang. Ein Lkw-Fahrer bremst ab und fährt kopfschüttelnd weiter. Kein Wunder, denn soeben hat Hauck etwas gefunden. Eine rostige Säge. Wieder wird die Fundstelle säuberlich mit Kreide und Stahlnagel markiert. Etwa 200 Meter weiter findet Thomas Hauck zwei Socken.

Ein Hallenser, der ein paar Straßen weiter gerade ein Tor repariert, findet Haucks 24-Stunden- Trip schwachsinnig. Der Mann beobachtet, wie der Künstler und sein Gefolge an ihm vorbei auf einen Hinterhof stapfen. „Was ist das? Kunst? Sind die denn noch zu retten?“ schimpft er. Das leerstehende Backsteingebäude nebenan „gehört der Treuhand“, weiß er, früher sei das eine Buchdruckerei gewesen. Das verlassene Jahrhundertwendehaus in der Rudolf- Ernst-Weise-Straße 16 scheint niemandem zu gehören. Hier tütet Hauck in einer Speisekammer eine verstaubte Gardine und im ersten Stock eine karierte Anzughose ein.

Wie überall im Osten gehören auch in Halle Ruinen zum Stadtbild. Rund 1.500 Gebäude stehen leer. Die Besitzverhältnisse sind nicht geklärt, oder eine Treuhand- Nachfolgegesellschaft sucht nach Kaufwilligen. Viele Gebäude werden nicht mehr gebraucht. Seit der Wende haben knapp 50.000 Hallenser ihre Stadt verlassen, die Einwohnerzahl ist auf 274.000 gesunken. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent. Schuld daran sei das Ende der Buna- und Leuna- Chemie-Werke, sagt ein Passant. „Was sollen die Leute denn noch hier?“

Werner Zimek hat also Glück mit seinem ABM-Job. Der gelernte Ingenieur löst seit Januar das Archiv der abgewickelten „Ilka-Service VEB Maschinenfabrik“ auf: „Eigentlich sortiere ich die Lohnzettel von 1946 bis 1990 um. Die waren nach Jahren geordnet. Ich stelle die nun nach Namen zusammen.“ Ende des Monats ist mit der staubigen Arbeit Schluß, dann gehen die Unterlagen von ehemals 3.000 Arbeitern in das sachsen-anhaltinische Zentralarchiv nach Magdeburg. Und Zimek geht in den Vorruhestand.

„Natürlich frustriert mich das hier“, meint Zimek und schließt den oberen Knopf seines Arbeitskittels. „Hier war mal Leben. Und nun ist hier alles verfallen.“ Was ihn bedrückt, das freut Thomas Hauck, der auf dem riesigen, von Unkraut zugewucherten Gelände der ehemaligen Maschinenfabrik umherstreift. Er klettert in eine ausgebrannte Werkshalle und wühlt in verrußten Metallteilen, murmelt dies und das, findet aber nichts für seine Sammlung. „Na ja, wenn das Kunst sein soll, ich weiß nicht“, wundert sich Zimek. „Aber schön, daß sich jemand für das hier noch interessiert.“

Auch für eine zerquetschte Sardinenbüchse interessiert sich Hauck. Auf der Schmeerstraße, kurz vor dem Marktplatz und der Altstadt hockt er auf der Straße und pult die Dose aus den Fugen der Gehwegplatten. „Was ist das?“ fragt eine mit Einkaufstüten bepackte Hallenserin. „Eine Sardinenbüchse“, antwortet Hauck. „Und was wird das?“ „Kunst!“ „Ach so.“ Die korpulente Frau ist zufrieden und schlendert weiter.

„Und was wird das?“ „Kunst.“ „Ach so.“

In der Innenstadt haben Banken und Versicherungen ihre Paläste errichtet. Im Zentrum und im Norden von Halle lassen sich auch schneller Investoren finden, die sich der heruntergekommenen Stuckfassaden annehmen. Überall donnern Preßlufthämmer und kreischen Bohrmaschinen. Es gilt Wertvolles zu retten: Immerhin stehen in dieser Gegend das Geburtshaus von Georg-Friedrich Händel und das Wohnhaus von Friedemann Bach, dem ältesten Sohn von Johann Sebastian Bach.

Hinter dem Marktplatz baut der Mitteldeutsche Rundfunk. Die gigantische Baustelle interessiert den wandernden Künstler jedoch nicht, der es überhaupt haßt, eine Stadt per Stadtführer zu erkunden. Er hat gerade die ehemals besetzten Häuser der Kellnerstraßen-Initiative gefunden. Sie sollen demnächst saniert werden. Hauck pflückt ein Stück Pappe aus einer wild besprühten Haustür. Im Laufe der nächsten Stunden wandern noch Turnschuhe, Arbeitshandschuhe, eine überfahrene Barbie- Puppe, eine Baseballkappe und Pumps aus Kroko-Imitat in Haucks Reisetasche.

Je länger er und seine Mitstreiter unterwegs sind, desto weniger finden sie. Die nördlich vom Zentrum gelegenen Straßenzüge im Paulus-, Mühlweg- und Giebichensteinviertel sind „zu schön und zu grün, da liegt nur wenig herum“. In der bevorzugten Wohngegend von Dozenten und Professoren der Martin-Luther-Universität und der Kunsthochschule Burg Giebichstein wird auf Sauberkeit geachtet. Hier ist nach Haucks Meinung „zuviel plattsaniert“. Aus Sicht der Hallenser dürfte eher von Bedeutung sein, daß hier fast alle Häuser bewohnbar sind – wenn auch viele die hohen Mieten nicht zahlen können.

Haucks Sammelei hat während der Wanderung System bekommen. Die gesammelten Schätze werden die Hauptrollen in einem Kinderbuch spielen, das er schreiben will. Doch erst einmal präsentieren er und seine Mitstreiter – müde und mit qualmenden Füßen – das Ergebnis ihrer Expedition am Abend in der ehemaligen Küche des früheren Mitropa-Restaurants in Halles Hauptbahnhof. Hauck packt seine Schätze aus, umkreist sie mit Kreide und schreibt den Fundort dazu. Im Hintergrund flackert das von Primo Mazzoni gedrehte Video, Tonmann Paul Hess hört man vom Band brabbeln. Nach einer Stunde ist alles vorbei. Etwa 50 Festivalbesucher begutachten die Fundstücke, amüsieren sich über die Kroko-Pumps.

Und nun? Was passiert mit all den Sachen? Hauck zuckt mit den Schultern.

Bleibt die Frage, wie nahe Thomas Hauck Halle tatsächlich gekommen ist. Die Hochhäuser in der Nähe des Marktplatzes findet er „eigenartig verdreht“. Daß dies ein Brennpunkt der Stadt ist, bleibt ihm verborgen. Dem Rannischen Platz am Rand des Zentrum attestiert er „mediterranes Flair“. Was indes Anwohner wohl eher als tägliches Dosenbierbesäufnis bezeichnen würden. Das kann beim Dosenaufsammeln schon mal aus dem Blick geraten.

Sein nächstes Sammelprojekt hat Thomas Hauck in Planung. Ende Juli wird er in seiner Wahlheimat Schweiz die Rütli-Wiese am Urner See inspizieren. Sie gilt als Gründungsort der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Anläßlich der 150-Jahre-Schweiz-Feiern wird Thomas Hauck 48 Stunden lang nach den Dingen auf der Bergwiese suchen.