Die Dschungelbahn

„Jede Schwelle ein Toter.“ Mit der geschichtsträchtigen Teufelsbahn ein Stück durch Brasiliens Wilden Westen  ■ Von Patricia Sholl

Schade, daß der dunkelhäutige Heizer nicht die Berliner Schwartzkopf-Lok, Baujahr 1936, befeuert – im halbzerfallenen Depot am Rio Madeira rostet die Urwald-Spezialanfertigung ungenutzt vor sich hin, dient indianischen Kids als Klettergerüst. Statt dessen pfeift der Condutor eine noch ältere Philadelphia-Dampflokomotive ab – unter dem Gejohle der lokalen Touristen zuckelt sie in Richtung grüne Hölle. Wer in den beiden hölzernen Passagierwaggons nicht unterkommt, zwängt sich in den einst für Vieh bestimmten Güterwagen, genießt die Aussicht auf den kilometerbreiten lehmgelben Fluß, winkt den direkt an der Strecke provisorisch hausenden Amazonensern zu. Die Peripherie von Porto Velho, Hauptstadt des Teilstaats Rondonia, ist bald erreicht, dann wird es wirklich exotisch: Papageien- und Affengeschrei, herunterhängende Lianen, ins Gesicht peitschende Zweige; Flugasche, die die Augen rötet, moosüberzogene Lok-Wracks. Für die paar „Gringos“ wie man in Brasilien alle Ausländer der Ersten Welt nennt, könnte die abenteuerliche Tour ewig so weiter gehen, doch nach nur sieben Kilometern ist an einem Wasserfall, einer Kultstätte afrikanischer Magie, Schluß.

Weiter geht es zu Fuß. Stunden über Schwellen springend, bis fern jeder menschlichen Siedlung mulmige Gefühle hochsteigen: Anakondas sollen bereits unvorsichtige Fremde erstickt und dann verschlungen haben, auch Geschichten über aggressive Wildkatzen und bewaffnete Räuber kursieren. Erschaudern läßt auch die dramatische, in Karnevalssambas verarbeitete Historie der „Ferrovia do Diabo“. 1870, noch über ein Jahrzehnt vor der Abschaffung der Sklaverei, erhält der nordamerikanische Oberst George Church vom brasilianischen Kaiser die Erlaubnis, mit Hilfe einer britischen Eisenbahnfirma die 366-Kilometer- Strecke von Porto Velho bis zu bolivianischen Grenze zu bauen. Ein Schiff mit 246 Arbeitern aus Philadelphia sinkt vor North-Carolina, 80 Personen ertrinken. Oberst Church wollte in zwei Jahren fertig sein, verlegt indessen nicht einen einzigen Kilometer.

Sein Landsmann und Unternehmer Thomas Collins scheitert ebenfalls und geht pleite, läßt Maschinen und Ausrüstungen in der Wildnis, kehrt mit Malaria und verwundet durch Indianer frustriert in die Heimat zurück. Mehrere hundert Arbeiter aber überleben nicht, sterben an Gelbfieber, Diphtherie, Typhus – und durch Caripuna-Pfeile oder Piranhas.

Die verwöhnte Frau eines Bauleiters hält das harte Urwaldleben nicht aus, sie endet in einer Irrenanstalt von Philadelphia.

1907, mitten im Naturkautschukboom Amazoniens, macht der Nordamerikaner Percifal Farkquhar schließlich Ernst: In 50 Ländern werden Arbeiter angeworben – Deutsche, Griechen, Chinesen, Russen, Inder steigen enthusiastisch in Dampfschiffe „for making America“. Doch der Süden des Kontinents ist erschreckend anders. Über 30.000 kommen um – daher der Spruch: „Jede Schwelle ein Toter.“ Einer von zehn Ankömmlingen stirbt nach wenigen Tagen, etwa 70 Prozent erkranken bereits im ersten Urwaldmonat schwer. 1910 müssen alle dreißig Tage zusätzlich tausend Arbeiter, die meisten aus den britischen Kolonien Barbados und Grenada, angeworben und herangeschafft werden. Zwei Jahre später wird die „Ferroviaria Madeira – Mamore“ eingeweiht, doch just dann endet Amazoniens Kautschukboom. Am Bau beteiligten Engländern gelingt es, trotz allerstrengster Verbote und Kontrollen, Kautschuksamen in die asiatischen Kolonien zu schmuggeln – das dort in riesigen Plantagen gezapfte Latex bringt die Weltmarktpreise zum Purzeln, die Zwei-Tage-Fahrt von Porto Velho bis Bolivien ist kaum noch rentabel.

1964 rufen Brasiliens Eliten das Militär an die Macht – anstatt wie in Europa oder Japan angesichts der Größe des Landes in die kostengünstige Bahn zu investieren, wird zugunsten der ausländischen Auto-Multis ein Großteil der ohnehin unzureichenden Strecken stillgelegt. Daß nahezu der gesamte Personen- und Güterverkehr nun über schlecht ausgebaute Straßen führt, treibt die Importrechnung für Öl steil in die Höhe. 1972 kommt auch das Aus für die Teufelsbahn. Alfonso Johnson, Sohn eines Gleisbauarbeiters aus Grenada, beklagt heute: „Wir hatten 22 Loks für die Bolivien-Tour – heute gibt's nur noch vier, und nur eine einzige funktioniert.“ Die kleine Assoziation der Teufelsbahn-Freunde Porto Velhos findet weder bei den von einem Korruptionsskandal in den anderen stolpernden Autoritäten Rondonias noch bei der staatlichen Tourismusbehörde Embratur Gehör. Dabei könnte die Bahn der Hit für ausländische Amazonien-Touristen sein. Wildwest-Rondonias Geschichte ist von der Ferrovia do Diabo nicht zu trennen. Auch den letzten sieben befahrenen Kilometern droht das Aus, weil die Behörden zulassen, daß Gußbetriebe massenhaft Schienen abmontieren lassen. Dann bliebe nur noch das kleine Bahnmuseum, bedröhnt von den Hard-Rock-Boxen zweier Kneipenschiffe daneben.

Hinter Museum und Lok-Depot beginnt die Haupt-Avenida von Porto Velho. Die „Sete de Setembro“ ist quirlig bis in die Nacht. In der Regenzeit verwandelt sie sich wegen der nachmittäglichen schweren Gewitter kurzzeitig in ein Flußbett mit reißendem Wasser, das allen Müll wegschwemmt. Links und rechts der Avenida ziehen Sekten-Padres Vorbeischlendernde gern in ihre vollen Tempel hinein, versprechen Wunderheilungen, Teufelsaustreibungen. Über der Avenida bieten auf großen Spruchbändern Apotheken allerpreisgünstigste Ohrenwäsche an; offenbar in ganz Amazonien ein viel genutzter Service.

Wer als Alternativtourist mit Zeit nach Manaus weiter will, steigt unten am Flußhafen in eine der Gaiola, Vogelkäfig genannten mehrstöckigen Holzbarken; allein das zwei- bis dreistündige Einstiegsprozedere, das Anbringen der eigenen Reise-Hängematte zwischen den zig anderen, alles im Qualm der Bratstände, lohnt sich. Mulmig zwischen den provisorischen Hafenbaracken wird's zum Einbruch der Dunkelheit; Revolvermänner und Dealer tauchen auf, gelegentlich fallen Schüsse. Anderntags melden die Zeitungen mit Foto, daß wieder jemand tot aufgefunden wurde. Beim „Chope“ (Glas Faßbier) erläutern Einheimische gerne, mit welchen harten Bandagen vor Ort um die Macht gerungen wird, welche Rolle die Drogenmafia spielt.

Lokalen Mediengepflogenheiten gemäß plaziert man Waffenannoncen stets groß auf der Verbrechenseite. Die tschechische Browning gibt's in vier Raten: „Europäische Technologie für ihre größte Sicherheit!“

Im Hotel Central rennen Dutzende Ameisen über die Frühstücksdecke. Sie sind Teil des normalen Amazonasambientes. Nur Minuten entfernt liegen die „Sehenswürdigkeiten“ der Stadt: der größte und beste Forró-Tanzschuppen, eine kleine Tanzakademie, das Zentrum der weltbankkritischen Rondonia-NGOs, das Büro des engagierten Indianermissionsrats „Cimi“ – und für den Abend die Terrassenkneipe „Mirante I“ mit Ausblick auf den Rio Madeira. Für jeden Geschmack eben etwas.