: Die prächtige Maschine ist geölt
„Der Pokal gehört uns“: Brasilien zieht auch beim 4:1-Achtelfinalsieg gegen Chile seine Kreise so unbeirrt wie die Titanic vor dem Eisberg – scheinbar unsinkbar ■ Aus Paris Christoph Biermann
Mit voller Kraft fährt die blau- gelbe Titanic voran, nichts und niemand wird ihr das Blaue Band des Weltmeisterschaftsgewinns mehr nehmen können. Auch das am Ende berauschende Spiel gegen Chile kann nur eine Zwischenepisode auf dem Weg in die Geschichtsbücher sein. Von der Kommandobrücke vermeldet Trainer Mario Zagallo nach dem problemlosen 4:1-Sieg, daß er die Trophäe des Siegers bereits in seinen Händen sieht: „Der Pokal gehört uns.“
Auf der Achtelfinal-Etappe führte die mächtige Maschine alle ihre prächtigen Teile vor. Die Tonnage von Qualitäten übertrifft die aller Konkurrenten: mehr Schnelligkeit, mehr Tricks, mehr Kraft und mehr Torgefährlichkeit. Junior Baiano trat die Bälle bei den wenigen chilenischen Angriffen so hoch und weit aus der brasilianischen Abwehr hinaus, wie kein anderer Spieler des Turniers. Roberto Carlos raste, von Defensivarbeit weitgehend befreit, jenseits aller Geschwindigkeitsbegrenzungen über die linke Außenbahn und bewies dabei, daß man selbst bei einer WM noch den Ball am Gegner vorbeilegen und dann einfach schneller laufen kann. Für Zagallo war er „der beste Spieler“ seiner Mannschaft. Dunga und César Sampaio würgten jede Bemühungen der Chilenen, etwas am Spiel teilnehmen zu dürfen, ohne Gnade schon im Ansatz ab. Rivaldo durchschnitt das Mittelfeld nach Belieben, und Leonardo tanzte lustvoll mit dem Ball über die rechte Seite.
Und Ronaldo? Der designierte Star des Turniers lungerte vermeintlich verschlafen irgendwo in der Spitze herum und weckte bei jeder Ballberührung eine aufgeregte „Jetzt gehts los“-Stimmung im Stadion. Ohne daß es wirklich losging, es aber immerhin für ihn zu zwei Toren und zwei Pfostenschüssen reichte: „Die Tore schmeckten süß, aber sie haben nur den Appetit auf mehr geweckt. Jetzt habe ich nur neue Gegner: die Pfosten.“ Für Zagallo zeigte Ronaldo vor allem in der zweiten Halbzeit eine Leistungssteigerung, deren Ende noch nicht abzusehen sei: „Er wird bei diesem Turnier die Erwartungen erfüllen.“
Das wird wohl für die gesamte Titanic gelten, die beste Mannschaft aller Zeiten. Selbst als die Brasilianer „einen nervösen Start“ (Torwart Taffarel) hatten, eine Halbzeit lang eher starr und schematisch spielten und nur drei Torchancen hatte, gingen sie mit einer 3:0-Führung in die Kabine. Die beiden frühen Tore von César Sampaio im Anschluß an Freistöße verwandelten die Partie schon nach einer halben Stunde in ein Freundschaftsspiel. „Wir haben zwar gut angefangen, aber unglücklicherweise hat Brasilien mit dem ersten Angriff getroffen. Mit ihrem zweiten Tor war das Spiel für uns vorbei“, meinte Chiles Trainer Nelson Acosta.
Der zweite Abschnitt gegen Chile war nach einhelliger Meinung von Zagallo und fast aller Brasilianer ihre bislang beste, nur Bebeto war anderer Ansicht. Der bei den brasilianischen Fans ungeliebte Sturmpartner von Ronaldo forderte die entschlossene Fortsetzung der sowieso schon offensichtlichen Germanisierung des brasilianischen Spiels: „Im Gegensatz zu Zagallo ziehe ich unser Spiel in der ersten Halbzeit vor, denn dort haben wir drei Tore geschossen. Ich ziehe es vor, wenn Brasilien schlecht spielt, aber gewinnt.“
Angesichts des glatten Durchmarschs gegen Chile sind die Eisberg-Warnung der Niederlage gegen Norwegen längst vergessen. Jetzt sind es nur noch drei Spiele bis zum Titel, in denen die Rolle des romantischen jungen Helden weiterhin Denilson vorbehalten bleibt. Der Leonardo di Caprio des Ensembles, geliebt von den Torcidas, den brasilianischen Fanclubs, von Mario Zagallo aber allein mit einer Nebenrolle bedacht, durfte wieder nur 25 Minuten spielen. In dieser Zeit sorgte er für Glücksjauchzer auf den Rängen, als er Ronaldos zweites Tor auflegte oder einen Ball in der Luft per Hacke auf Roberto Carlos weiterschnippte, der zu Ronaldos zweitem Lattenschuß auflegte.
Bei diesen kleinen Verschönerungen des Spiels durch Denilson wird es bleiben. „Das sei nur mal klargestellt, ich werde die erste Elf nicht verändern“, stoppte Mario Zagallo die wieder einmal heftig insistierende brasilianische Journaille.
Doch das sind nur noch kleine Schwierigkeiten auf der Titanic, wo bislang keine großen gelöst werden mußten. Noch ist der Tag nicht gekommen, an dem sich die brasilianische Mannschaft mit einem wirklichen Problem auseinandersetzen mußte. Noch ist sie nicht in einen Rückstand geraten – sieht man vom 2:1 der Norweger zwei Minuten vor Schluß ab. Noch war sie nicht in Gefahr. Hört noch jemand Warnungen auf der Titanic?
Chile: Tapia – Reyes, Fuentes, Margas – Cornejo, Acuna (80. Musrri), Miguel Ramirez (46. Estay), Sierra (46. Vega), Aros – Salas, Zamorano
Zuschauer: 48.712 (ausverkauft)
Tore: 1:0 César Sampaio (11.), 2:0 César Sampaio (27.), 3:0 Ronaldo (45./Foulelfmeter), 3:1 Salas (68.), 4:1 Ronaldo (70.)
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