piwik no script img

...Zahn um Zahn

Die leiblichen Nöte der Armen  ■ Von Gabriele Goettle

Die Zeit schwingt sich

wie eine Brezel

durch die Natur.

Die Feder malt die Landschaft,

und entsteht eine Pause,

so wird sie mit Regen ausgefüllt.

Man hört keine Klage,

denn es gibt keinen Firlefanz.

(Walter Benjamin)

Am Seiteneingang der Kirche warten die zu früh gekommenen Armen rauchend und plaudernd aufs Frühstück.

Erwin kommt mit schlenkernden Armen die Treppe herauf. Er trägt eine Mütze von der Dresdner Bank mit der Aufschrift „Talentförderung“. Mit unbeweglicher Miene sagt er: „Du! 'nen neuen Kühlschrank hab' ich. Der Herr Jesus hat mich erhört, so 'ne Scheiße! Was mach ich jetzt?“ Der französische Kirchenmaler rät: „Fleißig beten“ und zündet ein Zigarillo an. Sein fortgeblasener Rauch steigt einem riesigen jungen Mann in die Nase und läßt ihn nähertreten. Alles an ihm macht einen hängenden Eindruck, Augenlider, Mundwinkel und Schultern. Selbst die Haut scheint an einer dünnen, wabbeligen Fettschicht allmählich hinabzurutschen. Trotz seiner Jugend und Größe wirkt der ganze Mensch schlaff und ältlich. Er fragt nach einem Zigarillo, und der Kirchenmaler reicht ihm seine Blechschachtel: „Das ist eine Havanna!“ „Heute rauch' ich alles“, dankt der junge Mann und saugt mit überraschender Gier den Rauch ein. Der Kirchenmaler sagt: „Normalerweise gebe ich nur tätowierten Leuten was“, und blickt versonnen auf den Arm eines an der Tür lehnenden ehemaligen Seemannes. Der junge Mann entblößt seine Arme bis zu den Schultern, sie sind überzogen von langen Narben, so als wäre mit einem Kartoffelschäler die Haut abgehobelt worden. Dazwischen wölben sich knotige Stellen, Wucherungen, denen man die Herkunft unmöglich ansehen kann. „Na, reicht das?“ fragt der junge Mann und entblößt seine enorm bleichen, haarlosen Beine, „hier ist noch mehr!“ „Gut und schön“, sagt der schwerkranke Kirchenmaler gelassen, „aber was soll das darstellen?“ Der junge Mann erklärt, ein wenig beleidigt über den Mangel an Bestürzung, daß es sich um verheilte Spritzabszesse handelt. „Ich hing zwölf Jahre an der Nadel und habe immer, immer eine Vene gefunden. Bis eines Tages nichts mehr ging, sogar in den Hals habe ich mir gedrückt, dann war's soweit, sie wollten mir ein Bein abnehmen, das wurde schon brandig. Im letzten Moment hat es sich gebessert, sonst wäre ich heute ein Krüppel.“ „Krüppel bist du trotzdem!“ sagt der Kirchenmaler mit kaltem Lächeln. „Aber ich bin clean!“ ruft der junge Mann trotzig aus. „Ich bin im Methadonporgramm. Jetzt werde ich 27, und mit 30 Jahren bin ich ein neuer Mensch!“ Der Kirchenmaler nicht übertrieben zustimmend und fragt: „Was hast du noch für eine Krankheit?“ Der junge Mann hebt schmerzerfüllt die Augenbrauen: „Zahnweh habe ich, schreckliches Zahnweh, schon seit zwei Wochen. Nachher muß ich zum Zahnarzt. Das wird ganz furchtbar, weil ja bei mir die Spritze nicht richtig wirkt, wegen dem Methadon. Wenn ich dem Arzt aber sage, he Sie, ich brauche 'ne richtige Keule, zieh'n Sie mal doppelt auf, dann sagt der sich doch gleich, na, die Fixer, die nutzen doch jede Möglichkeit, da spiele ich nicht mit. Deshalb bin ich lieber vorsichtig.“ Er entblößt seine Schneidezähne, sie bestehen aus schwärzlich-gelben Stummeln, die in einem aufgeschwemmten blauroten Zahnfleisch verschwinden. Seitlich zeigen sich Lücken. Die untere Reihe scheint halbwegs intakt, so daß beim Sprechen nichts weiter vom Zustand der Zähne zu sehen ist. Aber nicht nur die oberern Schneidezähne sind kaputt, auch die Backenzähne haben Löcher und verursachen Zahnschmerzen, erfahren wir.

Wie soll er die nur zu fassen kriegen, wenn die raus müssen?“ fragt der junge Mann besorgt. „Dafür gibt es Spezialinstrumente, solche Zangen und Knochenbrecher, die werden angesetzt und dann wird gebogen und gerissen, das kommt alles mit einem Male raus.“ Die Augenbrauen des jungen Mannes nehmen eine dauernde Schräglage ein. „Der Nerv ist schon tot, glaube ich, bei dem einen, aber was ist, wenn da was abbricht? Manchmal sind die Wurzeln ganz verzweigt unten, das ist bei meinen Zähnen so. Auf engstem Raum kommen sie raus, verzweigen sich unten, und oben machen sie Probleme, faulen ab und stinken. Ich muß schon 'nen Meter Abstand halten von den Leuten, mit diesem Atem. Dagegen kann ich gar nichts machen, sie verfaulen mir über Nacht und brechen ab.“ „Egal“, sagt der Kirchenmaler, „da wird zur Not der Kiefer aufgeschnitten und der ganze Müll herausgemeißelt, mit einem Stemmeisen. Das tut überhaupt nicht weh – normalerweise, wenn die Spritze richtig wirkt. Immer raus damit! In der – wie sagt man – Zivilisation, da brauchst du keine Zähne, für das bißchen Suppe und Kuchen...“ Der junge Mann schweigt. „Schau mich an, ich hab' gute Zähne“, sagt der Kirchenmaler und präsentiert Ober- und Unterkiefernprothese, „ich hab sie mir salemals alle auf einmal ziehen lassen. Davor, jahrelang Kopfschmerzen, Entzündungen, Ohrenschmerzen, Eiter. Es war für mich die Erlösung. Ich hab' keine Probleme mehr. Damit kaue ich alles – jedenfalls das bizzele, das ich hab'.“ Der junge Mann blickt, teils skeptisch, teils angewidert auf die Zähne und fragt: „Und die mußt du nachts ins Glas tun?“ „Das ist kein Problem“, sagt der Kirchenmaler und zündet sich, ohne dem jungen Mann eine anzubieten, genüßlich einen Zigarillo an, „immer wenn ich nach Hause komme, nehm' ich die Zähne heraus, mach' sie erst mal sauber und tu sie wieder rein. Geputzte Zähne sind kalt und schmecken gut. Das mußt du dir merken. Also, man kann sagen, höchstens zwei- bis dreimal am Tag denke ich dran, daß ich ein – wie heißt es – Gebiß habe. Dann, wenn ich es sehe. Die andre Zeit ist es, als hätte ich eigene im Mund.“ Der junge Mann reibt sich das Kinn: „Seit ich diese dicke Backe habe, kann ich nicht mehr richtig denken, sehen, glaub' ich, auch nicht.“ Der Kirchenmaler bläst den Rauch am linken Ohr des jungen Mannes vorbei und erzählt: „Das geht alles über den Augennerv, als ich diese wahnsinnigen Entzündungen früher hatte, da konnte ich manchmal nicht scharf sehen und nicht gut hören. Ich bin so verrückt geworden, von den vielen Schmerzen – das war salemals in Metz noch – daß ich um halb zwölfe in der Nacht bei einem Zahnarzt geschellt habe... Nee, das möchte ich nicht noch mal erleben.“ „Schrecklich, hör auf, gleich kriege ich Kopfweh.“ „Ich hab solche Schmerzen gehabt“, fährt der Kirchenmaler fort, „das kann sich kein Mensch vorstellen. Ich bin schier in den Wahnsinn verfallen. Ich bin mit Draht rein, mit allen möglichen Instrumenten, ich hab' dagegen geschlagen, ich hab's mit Spiritus betupft, das Gelbe reingetan – wie sagt man – die Streichholzköpfe mit Schwefel, sogar mit Salzsäure hab' ich's betupft...“ Der junge Mann ruft aus: „Hör doch auf, bitte!“ Doch der Kirchenmaler fährt unbeirrt fort: „Hast du mal einen Nerv gesehen aus dem Zahn? Nein? Ich schon. Als der Arzt mir einen herausbohrte, da hielt er ihn mir hin, den Nerv. Ein Faden, so groß nur, aber der macht dir das Leben zur Hölle, Tag und Nacht tobt der in deinem Gehirn, bis du von der Brücke springst.“ „Scheiße!“ ruft der junge Mann, „jetzt geht's bei mir wieder los, ich halte das nicht aus!“ „Weißt du eigentlich“, fragt der Kirchenmaler im Plauderton, „daß sie die Leute auch gefoltert haben an den Zähnen? Wenn der Nerv offengelegt wird, und sie berühren ihn – nur ganz leicht, mit einem Instrument – ich garantiere dir, dann gestehst du alles!“ Der junge Mann hält sich beide Backen und fleht: „Ich gestehe jetzt schon alles!“ Der Kirchenmaler bietet ihm unverhofft was zum Rauchen an: „Nimm eine, dann wird's gleich besser. Der Zahnarzt packt dir da nachher ein bißchen Arsen rein, das tötet den Nerv ab und in einer Woche spürst du nichts mehr.“ „Ich halte das keine Woche mehr durch“, sagt der junge Mann jammervoll, bläst seinen Rauch dem Spender ins Gesicht und fragt: „Sag mal, gibt es denn nicht irgendeine Möglichkeit, daß man sich einfach hinlegt, eine Vollnarkose bekommt und sich alle auf einmal ziehen läßt?“ „Ja genau! So war das salemals bei mir“, sagt der Kirchenmaler, „ich war in einer Zahnklinik – du mußt dich von deinem Zahnarzt einweisen lassen, da kannst du nicht von dir aus hingehen – da haben sie mir die ganzen vereiterten Zähne herausoperiert aus dem entzündeten Kiefer. Vierzehn Tage war ich im Tiefschlaf, und als ich aufgewacht bin, da war alles vorbei und die Wunden konnten in Ruhe abheilen. Erst wenn alles abgeschwollen und wieder normal ist, kann der Abdruck für die Prothese gemacht werden. Ich war auch noch ganz jung. Es kam von dem minderwertigen und mangelhaften Essen, das sie uns im Waisenhaus gegeben haben, da können sich die Zähne nicht richtig entwickeln. Jedenfalls war dieses Problem so nach einem halben Jahr erledigt.“ Der junge Mann schaut neidvoll auf den Kirchenmaler: „Du, das mach' ich doch! Ich laß' mich einweisen, heute noch, wenn's geht, leg' mich hin, krieg' die Narkose und dann können sie rumstochern in meinem Kiefer, ich spüre ja nichts. Sollen sie mir meine fünfundzwanzig Zähne, die ich noch habe, ruhig alle rausreißen. Mein Zahnarzt wird zwar eingeschnappt sein, aber ich kann schließlich nicht jede Woche hingeh'n und einen Zahn ziehen lassen, ein halbes Jahr lang, da werde ich ja verrückt!“ „Das machst du alles in der Klinik“, sagt der Kirchenmaler geduldig, „und du bist dort ja nicht alleine, da wirst du dich wundern, was da für Patienten sind. Da liegen kleine Kinder, die haben noch gar keine Zähne, bei denen ist was am Kiefer, und junge Leute, die hatten Autounfälle oder so was, Leute, die geschlagen worden sind oder Leute mit Kieferkrebs. Wenn du siehst, was die alles mitmachen, dann kommt dir dein eigenes Problem ganz leicht vor, das ganz schnell gelöst werden kann. Morgens kommt der Chirurg, der sieht sich das an und sagt dir, wir machen das so oder so und abends ist schon alles überstanden.“

Nee wirklich“, sagt der junge Mann seufzend, „ich beneide dich, um das, was du da in deinem Mund hast! Wär' ich doch nur auch schon soweit... Aber sag mal, wenn ich da drei Wochen und länger ohne Zähne rumliege, da verhungere ich ja, wie esse ich denn dann?“ Der untergewichtige Kirchenmaler lacht und bohrt seinen Zeigefinger leicht in den Bauchspeck des jungen Mannes: „Du kriegst Spezialkost und dazu viel Eis, damit es schneller heilt.“ Der junge Mann wird immer lebhafter, feurig ruft er aus: „Eis? Wunderbar finde ich das, ich esse so gerne Eis...“ „Und Püree, Rührei, Suppe“, ergänzt der Kirchenmaler. „So!“ ruft der junge Mann aus, „jetzt habe ich mich entschlossen, das mache ich, ich lege mich so schnell es geht unters Messer. Und dann habe ich mein ganzes zukünftiges Leben Ruhe. Und außerdem, wer weiß, die ändern ja dauernd was. Ich bin zwar Sozialhilfeempfänger und bekomme alles gezahlt, und ich bin vor 1974 geboren, also krieg' ich auch noch 'ne Prothese von der Kasse – noch. Aber vielleicht ist das morgen schon anders – also, je eher ich ein Gebiß habe, um so besser!“ „Ja, und wenn dann mal einer kommt, der dir auf die Fresse hauen will“, sagt der Kirchenmaler, „dann holst du es raus, zeigst es ihm und fragst, ob er genug Geld hat, um die Reparaturkosten zu übernehmen.“ Beide lachen herzlich. Die Schmerzen des jungen Mannes scheinen verflogen zu sein. „Nur eins noch“, fragt er zögernd, „wenn sie nun sagen, daß ich noch zu jung bin für ein Gebiß, daß vielleicht zwanzig von meinen fünfundzwanzig Zähnen noch zu retten sind, daß man die doch nicht einfach so rausziehen kann, was mach' ich dann? Dann bin ich angeschissen!“ „Aber du hast doch gesagt, bei dir ist nichts mehr zu retten“, entgegnet der Kirchenmaler etwas mißmutig. „Ich will ja gar nichts retten“, ruft der junge Mann, „aber die vielleicht?“ „Mach mal den Mund auf!“ sagt der Kirchenmaler und blickt in den brav geöffneten Mund hinauf. Der junge Mann zieht mit beiden Händen ungeschickt zuerst die Oberlippe zur Seite, dann die Unterlippe. Der Anblick ist erschreckend. „Also“, sagt der Kirchenmaler, nachdem er, ohne ihn zu berühren, den Mund mit gefurchter Stirn betrachtet hat, „mal ehrlich: Diese hier sind meiner Meinung nach alle noch gut, die da unten und an der Seite.“ „Ja schon, aber siehste nicht, was hier ist?“ fragt der junge Mann verzweifelt und weist auf die seitlichen unteren Zähne. „Das ist Zahnstein, sonst nichts“, sagt der Kirchenmaler gnadenlos und lächelt freundlich. Der junge Mann erwidert trotzig: „So hat es immer angefangen, zuerst kam Zahnstein, dann war's plötzlich ein Loch, das immer größer wurde, bis am Ende die Schmerzen anfingen. Sieben Stück habe ich schon gezogen bekommen oder mir selbst rausgerissen, und wenn da Lücken sind, dann kommt das ganze Zahnsystem sowieso in Unordnung. Alle anderen Zähne stecken sich an, und man kann sie aufgeben über

kurz oder lang!“ „Ich bin ja nicht der Doktor“, sagt der Kirchenmaler leicht gereizt, „dem mußt du das alles erklären, nicht mir.“ Und während er sich zwei Neuankömmlingen zuwendet, dem Polsterer und dem Antiquar, sie aufs herzlichste begrüßt, zupft ihn der riesenhafte junge Mann noch mal zaghaft am Ärmel und sagt: „Also dann, vielen Dank auch. Ich gehe gleich los und bestehe einfach darauf, daß man mir die Zähne alle rauszieht, oder?“ „Ja, mach nur“, sagt der Kirchenmaler zerstreut und hebt ein wenig den Arm zu einer verabschiedenden Geste.

Der Antiquar, der in seiner Hamstertasche nicht nur eingeheimste Dinge hat, sondern auch das eine oder andere Mitbringsel, kramt zwischen den Plastiktüten diverse Salben und Essenzen für die offenen Fußsohlen des Radfahrers hervor: „Das ist 'ne ganz teure gute Salbe für 23 Mark, ungeöffnet und haltbar bis 2000... Ach und hier“, er steckt die Salben wieder ein und zieht einige Zeitungsausschnitte heraus, „das ist für dich, aus dem Tagesspiegel eine Buchbesprechung von der Jutta Ditfurth, über die Alice-Schwarzer-Biographien, ich bin aber ganz enttäuscht von ihr, sie kann ja gar nicht mehr formulieren, die Ditfurth. Und hier, was anderes hab' ich, noch eine Buchbesprechung, aus der Süddeutschen über das „Schwarzbuch des Kommunismus“ – und da ist noch was von Roger Willemsen, warum seine Talkshow angeblich gescheitert ist, das lege ich mit dazu – vielleicht kauf' ich mir das Buch ja, mal sehen, aber was ich so mitbekommen habe, soll es sich hauptsächlich um eine Aufrechnerei handeln. Bestimmt interessiert mich das nicht, da kauf' ich mir doch lieber was Pornographisches... Du, dreh dich mal unauffällig um, da kommt die Verfressene, die ,Tellermine‘. Zu der dürfen wir uns nicht an den Tisch setzen, da bleibt nichts übrig von Wurst und Käse. Und wenn wer was sagt, dann geht sie hoch...“ Eine untersetzte Frau mittleren Alters kommt die Stufen herauf, ohne den Antiquar oder einen der anderen Umstehenden zu beachten. Ihr Gesicht wirkt besonders abweisend. Das Haar trägt sie von kurz geschoren, ab der Mitte des oberen Kopfes ist es lang, braun und fällt bis in den Nacken. Die Schur hat offensichtlich den Zweck, eine große, weiße, exakt halbkreisförige Narbe freizulegen. Als die Frau hinter der Kirchentür verschwunden ist, bringt der Antiquar das Innere seiner Tasche in Ordnung, stellt sie zwischen die Füße und sagt zum Kirchenmaler: „Na, Frédéric, wie ist es dir ergangen?“ Der blickt ihn mit seinen grüngelben Augen forschend an, erstaunt über das Interesse, und antwortet: „Wenn du es wissen willst, schlimm war's, schlimm! Ich hatte solche Schmerzen, ich mußte mehr als meine normale Dosis Schmerztabletten nehmen... Und schlecht war's mir, oh, fast dachte ich, jetzt geht es los, jetzt kriege ich wieder einen Herzinfarkt und muß die Ambulanz anrufen... Und daß du dich überhaupt nicht um mich gekümmert hast, bei den Adventisten, das hat mir den Rest gegeben!“ Der Antiquar errötet leicht: „Du warst plötzlich verschwunden, ich hab' dich nicht mehr gesehen.“ Der Kirchenmaler entgegnet verbittert: „Ja, da guckt man halt mal ein bizzele rum! Ich war draußen im Garten, weil ich vor Schmerzen nichts essen konnte. Die Frau da, die immer die Teller bringt, die hat mir ein Glas Mineralwasser rausgebracht.“ Der Antiquar macht ein zerknirschtes Gesicht und entschuldigt sich. „Mir hat er gut geholfen“, ruft der Polsterer aus, „er war für mich einkaufen.“ „Für dich? Du bist doch kerngesund, weshalb muß denn das Aquarium für dich einkaufen!“ fragt der Kirchenmaler empört. Beschwichtigend erklärt der Antiquar: „Du weißt doch, der hat ja überall Hausverbot in seiner Gegend da, wegen Ladendiebstahl, in allen Supermärkten, da bin ich für ihn mal zu Penny rein und hab' ein paar Kleinigkeiten...“ „Ja, nichts weiter“, fügt der Polsterer hinzu, „ich war ja so gut wie blank, schon wieder mal, hab' mein ganzes Geld in der Nacht vorher ausgegeben.“ „Wofür denn!?“ fragt der Kirchenmaler streng. „Ach, so halt“, sagt der Polsterer mit einem kleinen dreckigen Lächeln, „bei uns im Wedding. War aber alles mit bei: Piccolo, Whirlpool anpinkeln, alles!“ Der Antiquar bekommt ein lüsternes Fuchsgesicht und neigt sein Ohr mit der Watte darin näher hin zum Sprechenden, während der Kirchenmaler ein wenig abrückt und skeptisch blickt. „Eine kräftige Ukrainerin“, fährt der Polsterer in schwärmerischem Tonfall fort, „mir direkt in den Hals – voller Strahl! Sie hat gestanden, und ich hab' zu ihr raufgeschaut, Mann! Ich bin reingegangen, da war ein netter Mann, der hat mir den Katalog gezeigt, es war eine Thailänderin drin, eine Libanesin, eine Schwarze sogar, eine Polin und die Ukrainerin. Die hab' ich dann bekommen. Gekostet hat's so 130! Schöne Haare hatte sie, bis zum Nabel hoch... Meinen Kopf mußte ich dazwischen stecken.“ Der Antiquar hat sofort bemerkt, daß die Erzählung nicht ausführlicher wird und sagt enttäuscht: „Ich war zweimal in meinem Leben, für mich ist das nichts.“ „Laß dir doch lieber mal deine Zähne machen“, rät der Kirchenmaler ungerührt.“ Der Polsterer lächelt verlegen mit fest geschlossenen Lippen, streicht über seinen grauen Dreitagebart und sagt dann: „Nee, warum denn? Ich gefalle auch so.“ Der Antiquar ruft schadenfroh: „Und nun kriegt der Kampfhund wieder 'ne Woche lang nichts zu fressen, der Arme.“ „Unsinn!“ empört sich der Polsterer, „ich hab doch grade drei Büchsen gezogen, bei Aldi in der Stadt, der hat genug zu fressen. Der Hund geht bei mir immer vor, immer! Ich hab' die drei Büchsen gezogen und dann hab' ich – ich geb's ja zu – meine letzten zehn Mark ausgegeben für Gliedsteife...“ „Für was?“ fragt der Kirchenmaler mit gerunzelter Stirn, und der Antiquar erklärt: „Na, weißt doch, davon bekommt man eine Erektion für 'ne Weile. Viagra für Arme ist das. Aber du, ebensogut kanner auch Bautzener Senf nehmen, der kostet nur 65 Pfennige.“ Der Kirchenmaler macht ein erstauntes Gesicht: „Wieso braucht denn so einer eine Erektion, ich denke, der war grade erst im Bordell!?“ „Das isses ja“, verteidigt sich der Polsterer, „dann drängt es ja am meisten! Dreimal hab' ich abgerieben – aber nicht vor dem Hund, ne, das wär' mir peinlich, die Cindy, die kommt immer ins Nebenzimmer, normalerweise schläft sie ja mit in meinem Bett.“ Dem Antiquar ist das Thema angenehm, er hebt den Finger und berichtet: „Ein schönes Bett hat er, aus geöltem Naturholz, da drin schläft er nachts mit seiner Kampfhündin und saugt an ihren Brustwarzen, darum sind die so lang. „Quatsch!“ ruft der Polsterer aus, die waren schon so lang, als ich den Hund übernommen habe. Und das mit den Zitzen in den Mund nehmen, hör mal, das passiert ganz automatisch. Wenn ich einschlafe, rutsch' ich rüber, und schon hab' ich 'ne Zitze im Mund, da ist doch nichts bei, der Cindy gefällt es!“ Kopfschüttelnd hat der Kirchenmaler den beiden zugehört, tippt sich an die Stirn und sagt: „Das ist Sodomie, so was! Deine einzige Entschuldigung ist, daß du nicht alle Tassen im Schrank hast, du bewegst dich ständig an der Grenze zur Irrenanstalt, aber du weißt es ja nicht. Dein Hund jedenfalls möchte ich nicht sein!“ Der Antiquar schaut verständnisvoll und sagt: „Na bald mußt du ihn sowieso abgeben, wenn sie die Hundesteuer auf tausend Mark erhöhen für Kampfhunde.“ „So?“ ruft der Polsterer, „aber nicht mit mir, ich hab' sie ja gar nicht angemeldet bei der Steuer!“ „Ja, hast du's denn noch nicht gehört?“ fragt der Antiquar leutselig, „Sozialhilfeempfänger sollen arbeiten geh'n als Hundepolizei. Wenn du Gassi gehst, überprüfen sie deine Steuermarke, und wenn der Hund keine am Halsband hat, dann wird er eingezogen.“ Dem Polsterer schwillt die Halsschlagader: „Nur über meine Leiche kommen die an den Hund ran, da werd ich rabiat, auch wenn ich sonst ein sehr friedlicher Mensch bin, da sollt ihr mich mal sehen, da werd' ich zur Bestie!“

Der Kirchenmaler klopft ihm beschwichtigend auf die Schulter. „Mal was anderes“, wechselt der Polsterer das Thema, „ich will euch was erzählen, hört mal, noch was hab' ich gezogen, im Kaufhaus, einen schönen Edelstahltopf mit Glasdeckel. Ich hab' das jetzt mal ausprobiert mit der Folie. In der Haushaltsabteilung Alufolie geklaut und dann schnell dick um den Topf gewickelt und runter zum Ausgang. An der Elektroschranke stand so ein Bulle von Detektiv, er schaut, ich geh' durch mit Herzklopfen, aber es hat keinen Alarm ausgelöst. Mann, war ich froh, ich wußte ja nicht, ob's funktioniert.“ „Wißt ihr schon das Neueste“, verkündet der Antiquar laut den Umstehenden, „der Polsterer ist Edelstahlfetischist! Ab jetzt nenne ich dich nur noch Edelstahl.“ Die Umstehenden verstehen nichts und wenden sich wieder ihren Gesprächen und Bierbüchsen zu, der Polsterer aber erzählt geschmeichelt: „Ich hab' jetzt so kleine Kaffeetassen gesehen aus Edelstahl, sie haben eine doppelte Wand und sehen wirklich gut aus. Die hol' ich mir. Du, ich hab' schon alles genau gecheckt, zwei Tassen und Unterteller – na, wenn mal Besuch kommen sollte – die steh'n günstig, Alu drum, fertig.“ Der Polsterer, dieser weitgehend ungebildete und des Lesens, Schreibens und Rechnens nicht sehr kundige Mann, ist ein absolutes Phänomen, wenn es um Geschmack und Ästhetik geht. Ließe man ihn frei wählen, er würde im Nu ein Haus aufs schönste einrichten, ohne je etwas vom Bauhaus, von italienischem Design oder „Manufactum“ gehört zu haben. Ein Kampfhund allerdings würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht fehlen, vielleicht aber würde er sich zu einem Dalmatiner durchringen. Für einen Kleptomanen mit Geschmack jedenfalls ist das Leben nicht ganz einfach, selbst dann nicht, wenn ein „Jagdschein“ behördlicherseits anerkennt, daß gegen seinen Trieb keinerlei Strafmaß etwas ausrichten kann. Angeblich tauchen in der Wohnung des Polsterers in unregelmäßigen Abständen Gesetzesvertreter auf und beschlagnahmen alles, was edel ist und wofür keine Rechnung vorgelegt werden kann. Dennoch gelingt es ihm stets, seine polnische Ledertasche, indem er sie bei sich führt, vor jedem Zugriff zu bewahren. Sie enthält eine zierliche Edelstahlthermosflasche und ein verchromtes Wahrmhaltegefäß. Da hinein läßt er sich in den jeweiligen Suppenküchen Kaffee und Speisereste geben, von denen er weitgehend lebt. „Edelstahl, komm!“ ruft der Antiquar, „wir müssen rein, sonst sind gleich alle Plätze besetzt.“

Viel später, die meisten Armen haben die Kirche bereits verlassen und sich auf den Weg zu den Ausgabestellen des Mittagessens gemacht, treffe ich auf die Frau, die den Spitznamen „Tellermine“ hat. Sie sitzt auf der Kirchentreppe und blickt desinteressiert auf mich und meinen Hund. Dennoch grüße ich sie, woraufhin eine leichte Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck zu sehen ist. Sie betrachtet mich, kneift die Augen zusammen, blinzelt und sagt: „Sie waren auch da drin vorhin, ich hab sie gesehen!“ Es klingt vorwurfsvoll. Ich ringe mich durch und sage: „Entschuldigen Sie die indiskrete Frage, aber ihre Narbe auf dem Kopf ist so ebenmäßig, stammt sie von einem Unfall? Die Frau kneift die Augen fest zusammen, blinzelt und sagt, als hätte sie es auswendig gelernt: „Das war 1989, ein Unfall. Autounfall. Direkt vor dem Westend- Krankenhaus. Ich war zu Fuß, Studentin im sechsten Semester, da ist es passiert. Ich habe gar nichts gespürt. Danach habe ich 5.000 Mark bekommen für den Semesterausfall und einen Schwerbehindertenausweis, 100 Prozent. Die Operation hat nicht wehgetan, auch hinterher hatte ich keine Schmerzen an der Stelle, wo sie den Knochen wieder eingesetzt haben. Es ging mir sehr gut, und die Narbe finde ich auch sehr schön.“ Es hört sich an, als sei das Ganze ein außerordentlicher Glücksfall für sie gewesen. Sie läßt ein Blinzeln und Zusammenkneifen der Augen vorüberstreichen und fährt fort: „Der Autofahrer hatte schon Rot gehabt auf seiner Ampel, als er drüberfuhr und ich auf dem Zebrastreifen war. Hinterher hat er mich besucht im Krankenhaus mit Marzipan. Vom ganzen Unfall habe ich nichts bemerkt, und jetzt habe ich einen Ausweis, 100 Prozent! Mein Vater, der auf Krücken geht und kaum vorwärts kommt, der hat nur – raten Sie mal!“ Ich tippe auf 70 Prozent. „Nein, falsch“, sagt sie, „50 Prozent hat er. Ich dagegen bin gesund, fühle mich wohl und habe trotzdem 100 Prozent. Und nun danke für Ihre Nachfrage, ich muß leider.“ Sie erhebt sich mühsam und geht leicht gebeugt Richtung U-Bahn Südstern davon.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen