Jasmin O. kann zu den Akten gelegt werden

Der Fall Jasmin O. ist vorläufig abgeschlossen: Der Junge und seine Eltern sind am Wochenende nach Bosnien zurückgekehrt. Unter Polizeiaufsicht ist er zum Düsseldorfer Flughafen gefahren worden. Eine Odyssee aus Klauen, Heimen und Medienrummel im Rückblick  ■ Von Julia Naumann

Vor einer Woche hat er noch gesagt: „Ich gehe niemals zurück nach Bosnien.“ Und fest daran geglaubt. Doch dann ging es ganz schnell. Jasmin O. hat am Wochenende Berlin verlassen. Nach Angaben der Ausländerbeauftragten des Senats, Barbara John (CDU), wurde der Junge am Freitag von der Polizei in der Friedrichshainer Jugendeinrichtung abgeholt, wo er zwischenzeitlich wohnte. Dort warteten am Flughafen bereits seine Eltern auf ihn. Am Samstag flog die Familie dann nach Sarajevo – die Eltern freiwillig, Jasmin unfreiwillig.

Für die Berliner Behörden geht damit ein Kapitel zu Ende, das die Öffentlichkeit monatelang erregt hatte. Mehr als hundert Straftaten soll das „Crashkind“, die „wandelnde Zeitbombe“, das „Klaukind“ begangen haben. „Das Thema minderjährige ausländische Straftäter ist an Jasmin O. von den Medien exemplarisch hochgekocht geworden“, sagt ein Sozialarbeiter rückblickend, der Jasmin betreut hatte. Die CDU, aber auch Justizsenator Körting (SPD) forderten geschlossene Heime für minderjährige Straftäter, die Boulevardmedien initiierten eine regelrechte Abschiebekampagne gegen Jasmin O.

Bis zuletzt war nicht klar, wie alt der Junge tatsächlich ist. Und: Die Behörden schoben sich die Zuständigkeit für den Jungen gegenseitig in die Schuhe. „Es wäre besser gewesen“, sagt die bündnisgrüne Stadträtin aus Tiergarten, Elisa Rodé, deren Jugendamt zeitweise für ihn zuständig war, „wenn Jasmin schon von Anbeginn seines Berlin-Aufenthalts professionelle Hilfe bekommen hätte.“ Jasmin O. hätte einen „sozialpädagogischen Bodyguard gebraucht, der auch die Möglichkeit hat, ihn gegen seine Willen festzuhalten“.

Für Jasmin O. bedeutet das ganze Leben Streß

Seit seiner Ankunft in Berlin vor drei Jahren verlief das Leben des Jasmin O. in der immer gleichen Abfolge: klauen, von der Polizei erwischt werden, zu den Eltern oder in einen Jugendnotdienst gebracht werden, spätestens nach drei Tagen wieder abhauen, wieder klauen... „Das ist vorbei“, sagte der Junge jedoch vergangene Woche ganz brav in einem Gespräch mit der taz, und in diesem Augenblick mochte man ihm das sogar glauben.

Jasmin erzählte, daß das ganze Leben ein einziger „Streß“ sei. Er agierte auch so: Hastig zog er an seiner Zigarette, zupfte nervös an seinem weißen Shirt, blickte hektisch durch den Raum. Streß mit den Eltern, Streß mit dem Klauen, Streß mit den Bullen habe er. Sein Alter ließ er im unklaren: „Ich bin 13 und werde im September 14 Jahre alt.“ Dabei grinste er ein wenig großspurig. Eigentlich, so war ihm anzumerken, war ihm das Theater um sein Alter völlig egal. Bewiesen werden konnte es sowieso nicht – seine Geburtsurkunde liegt in Belgrad, wo er geboren wurde.

Vor gut zwei Wochen ist Jasmin O. aus der geschlossenen Jugendstrafanstalt Kieferngrund entlassen worden – ein Gutachter konnte nicht vollends ausschließen, daß er noch 13 ist. Kaum draußen, fand er in sein altes Leben zurück. Er riß aus dem Pankower Wohnheim aus, in dem seine Eltern wohnten, er wurde wieder beim Klauen erwischt, schließlich landete er in einer Kriseneinrichtung, wo er bis zu seiner Abreise wohnte. „Hier mag ich es“, sagte Jasmin. Er kannte viele der Kids, hier wohnte seine Freundin, die 16jährige M., ein Trebekind aus Mecklenburg-Vorpommern, die wollte er „niemals wieder“ verlassen.

Jasmin hatte für sich geplant, in der Jugendübernachtung zu bleiben. Mit den Regeln schien er sich abgefunden zu haben: Frühstück um acht morgens, Bettruhe um zehn Uhr abends, putzen, einkaufen. „Ich habe einen Vertrag unterschrieben, daß ich dies einhalte“, sagt er stolz. Er meint damit die Hausordnung, die jeder unterschreiben muß. Jasmin wußte, wenn er die Regeln nicht eingehalten hätte, wäre er geflogen.

Doch: Seine Eltern wollten so schnell wie möglich zurück nach Bosnien, am liebsten in die Heimatstadt Bijeljina, die jetzt in der serbischen Teilrepublik liegt. Alija und Habija O. wollten ihren Sohn mitnehmen, daran ließen sie keinen Zweifel. Aber: „Niemals gehe ich mit denen zurück“, wiederholte Jasmin streng.

Der „Streß mit den Eltern“ habe schon angefangen, als er noch ein kleines Kind war. Seine Mutter habe ihn weggegeben, weil sein Vater eine andere Frau hatte. Er mußte ins Heim, zu Verwandten und wieder ins Heim. Als er nach einigen Jahren zu seinen Eltern zurückam, erkannte er sie nicht wieder: „Ich hatte Angst vor ihnen, weil ich nicht wußte, daß das meine Eltern sind.“ Deshalb, sagt er, sei er schon damals ab und an von zu Hause ausgerissen. Doch geklaut habe er dort nie.

Damit hat er in Berlin angefangen. 1995 war Jasmin mit seinen Eltern aus Belgrad geflohen. Sie lebten dort knapp drei Jahre bei Verwandten – als Roma wurden sie ganz am Anfang des Krieges aus Bijelijna vertrieben. „Ich habe wegen meiner Kumpels geklaut“, so seine ausweichende Antwort. Die Kumpels hätten gesagt: „Komm mit, laß uns das mal machen.“ Bei diesem Thema starrte er genervt an die Decke. „Dann habe ich es zwei-, dreimal mit denen gemacht, und dann bin ich alleine los.“

Und warum? Nicht wegen des Geldes, hatte Jasmin gemurmelt und mit den Schultern gezuckt und geschwiegen. So richtig wollte er über seine Diebstähle und seine Kumpels nicht reden. Auch nicht über das Autoknacken, die ständigen Spritztouren; teilweise fuhr er bis nach Westdeutschland. Er sagte nur: „Es ist leicht, ein Auto aufzubrechen. Und fahren ist auch leicht.“ Er hatte eben „Bock“ auf die Autos und „Bock“ aufs Wegfahren. Raus aus der Enge der Wohnheime und der Abhängigkeit von den Eltern. Weg von den Bedrohungen des Vaters, der ihn immer wieder schlug und ihn einmal sogar an eine Heizung kettete, damit er nicht mehr klauen gehen konnte. Er habe, sagte er, rein ins Leben gewollt.

Doch auch da spielte die Brutalität eine große Rolle. Immer wieder sprach Jasmin davon, wie er sich geprügelt hat, wie er Streß mit seinen Kumpels bekam, weil er ihnen „Sachen“ wegenommen hat. Um die Sachen, Hosen und Shirts, ersetzen zu können, habe er geklaut. Bei seinen Kumpels fand er aber auch ein Stück Heimat. „Ich kenne jetzt ganz viele vom Breitscheidplatz und vom Zoo, die da immer rumhängen“, sagte er nicht ohne Stolz in der Stimme.

Und dann sollte alles anders werden. Jasmin hatte sich vorgenommen, nicht mehr zu klauen, keine Autos mehr zu knacken, Schluß mit alldem zu machen, ein für allemal. Er wollte wieder die Schule besuchen.

Auch der Sozialarbeiter der Kriseneinrichtung, der mit Jasmin O. eine „Perspektivklärung“ gemacht hat, war erstaunt darüber, wie „verwandelt“ Jasmin gewesen sei. „Vor einigen Monaten“, sagte er „war mit Jasmin absolut nichts mehr los.“ Völlig perspektivlos sei er gewesen, immer wieder aus Übernachtungseinrichtungen rausgeflogen, weil er sich nicht an die Regeln gehalten habe. „Keiner wollte ihn mehr nehmen“, so der Sozialarbeiter.

Daß sich dringend etwas ändern muß in seinem Leben, war Jasmin in der geschlossenen Jugendstrafanstalt klargeworden. „Ich habe dort sehr viel nachgedacht“, sagte er und zerrte an seine schwarzen, zurückgekämmten Haaren, als wolle er sich irgendwo festhalten. Im Knast, so schien es, ist er zur Ruhe gekommen. Dort gab es kein Diebesgut, das vertickt werden mußte, und keine Sorge, wo er die nächste Nacht schlafen würde. Natürlich gab es in der U-Haft auch Streß, „ich habe sämtliche 80 Insassen von draußen gekannt“. Viele bekannte Gesichter von seinen Klautouren, vom Ku'damm und vom Hermannplatz, wo er immer rumhing. „Einmal habe ich mich mit einem Kumpel gestritten, der hat mich Hurensohn genannt und mich dann mit einem Messer gestochen“, erzählt er und zeigt eine dicke Narbe am Handrücken. Es ist nicht die einzige, zahlreiche Schnitte zieren seine Unterarme. Ob er sich diese selbst zugefügt hat – darüber wollte Jasmin nicht reden.

Doch auf der Straße hat er anscheinend auch gelernt, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen: Nach seiner Entlassung aus dem Kieferngrund telefonierte er mit dem Sozialamt, mit dem Jugendamt, mit diversen Notübernachtungen, um sein Leben zu organisieren. Telefonnummern kann er sich herrvorragend merken, sein Deutsch ist ausgezeichnet, schreiben und lesen kann er kaum.

Jasmin wollte Künstler oder Anwalt werden

Nach seiner Entlassung hielt er sich viel in der Übernachtungsstätte des Krisennotdienstes auf, turtelte mit seiner Freundin. Den ganzen Tag haben sie miteinander verbracht. Sind Hand in Hand durch die Straßen gelaufen, Schaufenstergucken. „Schule, schlafen, essen, trinken, Zigaretten, meine Freundin“, so hat er sich seine Zukunft vorgestellt. Irgendwann mal wollte er Künstler werden. Oder Anwalt. „Das ist zwar wirklich schwer“, sagte Jasmin, „weil man da so viel lernen muß.“ Aber er habe Lust darauf gehabt, „viel nachzudenken, zu reden, Leute zu besuchen“.

Doch ist das genug für ein neues Leben? Der Sozialarbeiter, der Jasmin O. betreut hat, war jedenfalls „sehr skeptisch“: „Ich bin mir nicht sicher, ob Jasmin so stabil geblieben wäre.“ Geplant sei gewesen, daß Jasmin einen Alphabetisierungskurs für Flüchtlingskinder beginnen sollte.

Doch der ist jetzt überflüssig geworden. Die Eltern hatten am Freitag vergangener Woche ihren Rückkehrantrag zur erweiterten Starthilfe für Flüchtlinge aus der Republik Srpska bei der Ausländerbeauftragten reaktiviert, der zurückgestellt werden mußte, als Jasmin im Kieferngrund saß. Nur wenn die ganze Familie zurückgeht, bekommen sie pro Person 2.500 Mark Starthilfe.

Wie das Leben der Familie O. in Bosnien weitergeht, weiß niemand. Was mit Jasmin passiert, ebenfalls nicht. Nur eins war für den Vater schon in Berlin klar: „Wenn Jasmin in Bosnien klaut, dann schlage ich ihn. Danach wird er es nie wieder tun.“