: Ans Alpenschleifen denkt niemand mehr
■ Feinschmeckervitrinen und Konzept-Flashbacks: Die Ausstellung „Freie Sicht aufs Mittelmeer“ im Kunsthaus Zürich zeigt den friedliebenden Weitblick junger Schweizer Kunst
Ganz richtig. „Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!“ hatte es 1980 geheißen. Für Punks und BesetzerInnen, die sich den Spruch ausdachten, war der eigentliche Alp ein Sechzig-Millionen-Frankenkredit fürs Zürcher Opernhaus, der ihnen die Aussicht auf ein autonomes Zentrum nahm. Junge Künstler von heute sind anders als die alterslosen Chaoten von gestern, und so dürfen die Schweizer KünstlerInnen der Ausstellung mit dem revolutionären Titel gleich mit einer Hundertschaft den geordneten Marsch durch die Institution Kunsthaus Zürich machen, um auf einer Fläche von rund 6.000 Quadratmetern Beweise ihres friedlichen Weitblicks zu liefern.
Ans Alpenschleifen denkt heute niemand mehr. Ugo Rondinone liebt das vaterländische Gestein so sehr, daß er drei Brocken vom Goldauer Bergsturz in weißem Polyester abgegossen hat, die jetzt als Lautsprecher von der Decke hängen und den passenden Sound für ein Video liefern. Eine der wenigen großen Gesten, die bei der Kuratorin Bice Curiger und ihrem Mitarbeiter Juri Steiner Gnade gefunden haben. Gefragt und angeboten waren mehr die beiläufigen und ironischen Kommentare zur Kunst- und Alltagswirklichkeit: Nik Emch aus Zürich etwa zielt mit den auf die Wand eines Rundpavillons gesprayten Silhouetten von Techno-Stars aufs Wiedererkennen. Auch wer nichts erkennt, kann Geschmack finden an der eisblauen Kühle und der Flüchtigkeit der „Erscheinungen“.
De facto Kulinarisches hat der in New York lebende Christian Philipp Müller zu bieten: die weltoffene Schweiz in der Feinschmeckervitrine, garniert mit Sprüchen, die über neue Trends des guten Geschmacks informieren: „Pferdefleisch ist in der Nachfrage wieder rückläufig.“ Wüßten wir es doch in der Kunst ebenso zuverlässig. Dennoch, die junge Schweizer Künstlergarde ist selbstbewußt. „Es sieht aus, als sei die horizontale Mittelmeerperspektive zwischenzeitlich realisiert“, heißt es im Klappentext. Stefan Altenburger läßt uns in einem verdunkelten Raum durch Büroschnipsel waten, während bunte Lichtschnipsel durch die Luft rieseln. Hier reimt sich dann horizontal auf flach. Das gilt auch für Patrick Weidmanns Hochglanzfotografien aus Autoinnenräumen. Beat Streuli erreicht mit dem langsamen Überblenden seiner großformatigen Diaprojektionen von großstädtischen Straßenszenen, daß sich das Zufällige ästhetisch auflädt. Anspruchsvolle Fotokunst präsentieren Teresa Hubbard/Alexander Birchler mit ihrer Serie „Stripping“, in der räumliches Innen und Außen auf psychische Wirklichkeit verweist. Cécile Wicks atmosphärische Fotografien der Reihe „Inseln“ wiederum erinnern an die Fotomalerei Gerhard Richters – eine Art Rückübersetzung.
Der Enthusiasmus der Kuratoren für die junge Kunst zeigt sich am deutlichsten da, wo die KünstlerInnen mit ihren Arbeiten auf Räume und einzelne Werke der Sammlung reagieren. Sylvie Fleurys weißflauschige Raketen und Kugeln mit implantierten Videos („First Spaceship on Venus“) lassen die Kunstwelten des Schweizer Nationalkünstlers Heinrich Füssli noch bleicher erscheinen. Susann Walder kommentiert Hans Thomas Bild „Bergsee“ mit einem üppigen Arrangement aus Schwarzwälder-Kirsch-Torte und Nippes. Am Ort des Säureattentats auf das Porträt Philipps IV. von Rubens wirkt ein Leuchtkasten von Rémy Markowitsch, der das Gemälde aus dem Polizeifoto des zerstörten Bildes endlos neu generiert, wie eine Herz-Kreislauf-Maschine.
Beim Einschleusen junger Kunst in die Sammlung haben sich die Kuratoren viel Mühe gegeben, auch die leisesten Töne der Rebellion vernehmbar zu machen. So weist eine goldglänzende Skulptur von Max Bill den Weg in ein Pappkartongehäuse, in dem Costa Veces Video „Dressed to Kill“ zu sehen ist. Eine ins Museum verlegte Sequenz aus dem gleichnamigen Thriller von Brian De Palma wird zum Austragungsort für aktuelle Fragen zu Kunst und Gesellschaft.
Unverzichtbar für ein Museum wie das Kunsthaus Zürich ist der Rückblick auf die Generation der Väter. Im Kabinett „Flashback“ blitzt John M. Armleder zurück auf die 70er Jahre, auf Bilder, Fotos, Objekte von Peter Fischli, Urs Lüthi, Dieter Roth, Roman Signer, David Weiss... Hat man sich endlich im Miró-Gärtchen niedergelassen, geht's auch da weiter: Eric Schumacher/Andrea Clavadetscher und Stefan Rotzler versuchen „Kapuzinerli“ zum Blühen zu bringen. Vor dem Haus hat Thomas Hirschhorn der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann einen prunkvollen Altar errichtet. Warum gerade ihr? Die Frage geht einem noch durch den Kopf, während man sich im Chevrolet Impala des amerikanischen Gastkünstlers Jason Rhoades durch die Zürcher Innenstadt chauffieren läßt oder in einem Tramwagen der Linie 8 endlich Pippilotti Rist begegnet. Für ihre Verhältnisse ist die Arbeit erstaunlich unspektakulär ausgefallen: Neben einer Videoinstallation können sich die Reisenden mit aufmunternden Sprüchen wie „Stellen Sie sich alle Passanten nackt vor“ die Zeit vertreiben. Gabriele Hoffmann
Bis 30.8. im Kunsthaus Zürich. Der Katalog kostet 48 SFr. Nächste Station: 6.10. bis 22.11. in der Schirn Kunsthalle Frankfurt.
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