Die Insel der Qualen

Welche Kräfte werden in Zukunft die russische Gesellschaft prägen? Eine kleine Geschichte der Intelligenzija sowie ihr Verhältnis und ihre Distanz zum Regime  ■ Von Masha Gessen

Als ich vor einiger Zeit mein Buch über die russische Intelligenzija schrieb, hatte ich meinen Computer so programmiert, daß er jedesmal „Intelligenzija“ ausschrieb, wenn ich „Int“ eingab. Ich bin noch nicht dazu gekommen, diese Programmierung wieder rückgängig zu machen, und jetzt setzt der Apparat dieses Wort fast willkürlich ein, egal, ob es am Platz ist oder nicht, und oft ärgere ich mich dann. Willkür und Ärger scheinen ganz allgemein auch die typischen Merkmale der derzeitigen Einstellung der Russen zur Intelligenzija zu sein. Genauso wie ich an meinem Computer können sie den Begriff nicht loswerden.

Sir Isaiah Berlin bezeichnete es einmal als den „möglicherweise bedeutendsten Beitrag Rußlands zur Zivilisation der Welt“. Das Konzept der Intelligenzija reicht zurück bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als eine kleine Gruppe gebildeter junger Männer, die an Hegel und die deutschen Romantiker glaubten, ihre Lebensberufung darin sahen, in ihrem Land die Aufklärung einzuführen. Bestimmte Kräfte wirkten zusammen, um dieses Verantwortungsgefühl hervorzubringen, das Berlin als „kollektives Schuldgefühl“ bezeichnete.

Erstens war Rußland ein deutlich gespaltenes Land. Auf der einen Seite die relativ kleine Gruppe derer, die eine gewisse formale Bildung besitzen, auf der anderen Seite die Massen, die über kein solches Wissen verfügen. Zweitens ist dem Land seit den Zeiten Peters des Großen eingeimpft worden, daß in der Aufklärung seine Zukunft und Rettung lägen. Die wenigen Privilegierten, die Zugang zu dem teuren Wissen in der Ferne hatten, betrachteten sich als Träger des Lichts und empfanden eine tiefe persönliche Verantwortung für das Schicksal ihres Landes.

Mit wenigen Ausnahmen, in denen die Intelligenzija an der Staatsmacht beteiligt gewesen sein mag, gab es zwei Arten des Verhältnisses zum Regime, die innerhalb der Intelligenzija um die Vormachtstellung kämpften. Die eine Gruppe stand in Opposition zum Regime und wollte es stürzen. Die andere verurteilte einzelne Handlungsweisen des Regimes und wollte es aufklären. So oder so speiste sich die Identität der Intelligenzija zum Teil aus ihrem Verhältnis und aus ihrer Distanz zum Regime.

Alles, was die Intelligenzija tat, tat sie im Namen des Volkes. Die Angehörigen der Intelligenzija verwandten Unmengen an Tinte und Zeit darauf, das Bild des Volkes, für das sie sich abmühten, zu veredeln. Doch es gelang ihnen kaum, ihre völlige Unkenntnis des Volkes und die daraus resultierende Angst vor dem Großen Ungewaschenen zu vertuschen. Der zweite Faktor, der die Stellung der Intelligenzija in der Gesellschaft bestimmte, war somit ihre angsterfüllte Distanz zum Volk.

Unterschiedliche Regimes lösten einander ab, doch sie blieben repressiv und unaufgeklärt. Die Intelligenzija protestierte mit Worten des Schmerzes, der Scham und der Hoffnung wider besseres Wissen. Das Regime zensierte die Worte und verlieh ihnen damit eine Wichtigkeit, die weit über den Einfluß hinausging, den eine kleine Gruppe Andersgesinnter in einem überwältigend gleichgültigen Land billigerweise haben konnte. Die Intelligenzija machte zwar regelmäßige Identitätskrisen durch und erklärte wiederholt ihren eigenen Untergang, doch die Angst des Regimes vor ihr war der beste Garant für ihren Fortbestand. Der Sieg der Oktoberrevolution 1917 mochte anfangs zumindest wie ein Triumph aussehen, doch bereits 1922 erklärte Lenin in einem Aufsatz mit dem Titel „Über den militanten Materialismus“ der Intelligenzija den Krieg. Er verunglimpfte „Professoren und Schriftsteller als „offenkundige Konterrevolutionäre..., Spione..., eine Gefahr für die Jugend“. Dutzende von Menschen in intellektuellen Berufszweigen sahen sich zu „Personae non gratae“ erklärt und verhungerten in den Jahren der größten Not unmittelbar nach der Oktoberrevolution. 1922 verfrachtete die Geheimpolizei 160 Wissenschaftler auf einen Dampfer, der sie ins Exil ins Ausland brachte. Das Schiff ist als Philosophendampfer in die Geschichte eingegangen.

Das neue Regime verstaatlichte die gesamte kulturelle Produktion und schrieb bestimmte Stile und sogar Genres sowie einzelne ausschließlich definierte Denkweisen als streng verbindlich vor. Die Arbeitsbienen in diesem intellektuellen Milieu wurden später von der Intelligenzija selbst als die „Sowjetintelligenzija“ bezeichnet. „Sowjet“ war dabei weniger eine geographische oder gar ideologische Bezeichnung, sondern kennzeichnete ein Eigentumsverhältnis. Sie waren nicht das Regime, aber sie führten die Befehle des Regimes aus, und die sowjetische Wissenschaft, die international großes Ansehen genoß, und die sowjetische akademische Welt ruhten auf ihren Schultern. Oft arbeiteten sie im Namen einer „Großen Idee“, entweder der offiziellen Großen Sowjetischen Idee oder einer privaten Großen Idee, die eine Rechfertigung dafür lieferte, daß sie die Lügen des Regimes mittrugen. Auf gewisse Weise litt damit auch die Sowjetintelligenzija als ein Teil des sowjetischen Establishments weiter an einer Variante der moralischen Qualen der Intelligenzija. Während der Regierungszeit Stalins wurde von den Sowjets – parallel zu den Säuberungen, die die gesamte Intelligenzija einschließich des regimetreuen Teils trafen – nach und nach ein System der moralischen und materiellen Belohnung der Intellgenzija aufgebaut. Wer sich intellektuell betätigte, konnte einen relativen Lebenskomfort genießen, eine Regelung, die im Westen nicht ihresgleichen hatte. Offiziell anerkannte Schriftsteller, also diejenigen, die Mitglieder des Schriftstellerverbandes waren, bekamen besondere Wohnungen, Luxusferien, eine bessere ärztliche Versorgung, und in allen größeren Städten gab es sogar speziell ausgezeichnete Restaurants für sie. Hunderttausende konnten ihr Leben damit verbringen, vage umrissenen akademischen Beschäftigungen nachzugehen.

Wurden diese Mühen im Dienste des Staates schon überbewertet, so wurde einer intellektuellen Tätigkeit, die auch nur den geringsten Anlaß zu einem Verdacht auf Subversion bot, eine noch viel größere Bedeutung beigemessen. Es gab Zeiten, in denen man sich durch ein Wort, das man gesagt, ein Gedicht, das man rezitiert hatte, oder ein Buch, das man besaß, unter Umständen schwerwiegenden Konsequenzen ausgesetzt sah, die vom Verlust der sozialen Stellung über eine Gefängnisstrafe bis hin zum Tod reichen konnten. Je mehr das Wort in den Untergrund gedrängt wurde, desto mehr wurde ihm eine mythische, möglicherweise sogar tödliche Macht zugesprochen.

Doch die Zeiten, in denen die Intelligenzija im Laufe ihrer Geschichte diese Macht auskosten konnte, waren dünn gesät. In den Jahren nach der ersten russischen Revolution 1905 bildete sich eine Art öffentliches Forum für die Debatte über Ideen, doch in den zwanziger Jahren setzte die sowjetische Diktatur dem ein Ende. In der Tauwetterperiode unter Chruschtschow, die 1956 einsetzte, begannen junge Leute, Samisdat-Literatur (wörtlich: Literatur im Selbstverlag) in Umlauf zu bringen. Größtenteils handelte es sich dabei um Lyrik, wahrscheinlich weil es das kleinstmögliche Format war, in dem man eine andere Meinung zum Ausdruck bringen konnte, doch gleichzeitig den größtmöglichen Raum für Uneindeutigkeiten ließ. Doch 1965 läutete die Verhaftung von Andrej Sinjawski und Juli Damiel das Ende der Tauwetterperiode ein. Die hoffentlich letzte Phase sanktionierter und rationierter Redefreiheit kam mit der von Michail Gorbatschow erklärten Glasnost Ende der achtziger Jahre.

Zwischen 1987 und 1991 brachten sowjetische Verlage fast die gesamte Samisdat- und Tamisdat- Produktion (wörtl. Dortverlag, Bücher, die im Ausland erschienen) offiziell heraus. Die Auflagenziffern großer Publikationen schossen in die Höhe. Auf dem Gipfelpunkt der Glasnost erreichten die sogenannten dicken Zeitschriften – Literaturmagazine, die immer die Domäne einer professionellen Elite gewesen waren – Auflagenziffern von fünf Millionen. In einer Gesellschaft, der man beigebracht hatte, nie etwas in Frage zu stellen, schien jetzt alles vogelfrei. Die Intelligenzija hatte immer von einer Debatte geträumt, die so lebhaft war, daß sie das ganze Land erfaßte.

Das Verblüffendste war, daß die Diskussion weit über die Grenzen professioneller Clubs und Forschungsinstitute hinausreichte und auch die Menschen ergriff, die die Intelligenzija in dem festen Verdacht hatte, „das Volk“ zu sein. Diese Menschen absorbierten nicht nur die astronomischen Auflagenzahlen, sondern kamen auch zu Hunderttausenden zu Demonstrationen und Kundgebungen. Auf dem Höhepunkt der Diskussion über die Vorrangstellung der Partei in der Regierung stimmten sie den Ruf an: „Nieder mit der Partei!“ Lauthals forderten sie Demokratie, brachten ihre Hoffnung und, im März 1991, Unterstützung für Jelzin zum Ausdruck.

Dann ging das Volk nach Hause. Die Auflagenzahlen fielen genauso rasch, wie sie gestiegen waren. Die Kundgebungen hörten auf. Der Protest wurde still. Dem Hochgefühl von Glasnost und Perestroika folgte eine kurze Stabilisierungsphase voll Selbstzufriedenheit, auf die dann der Alptraum von Inflation, Zerstörung, Depression, bürokratischen Schlachten, aggressiver Entfremdung, einer krankhaften, schwelenden Identitätskrise und einer beängstigenden, undurchdringlichen Apathie folgte. Wieder war die Intelligenzija allein, eine Insel der Qualen, die zwischen der nun wieder fest etablierten Regierung und dem Volk klemmte, das wieder in seine Gleichgültigkeit zurückgefallen war. Es stellte sich heraus, daß die Revolution, die das Wort entfesselt hatte, entweder eine Illusion gewesen oder rückgängig gemacht worden war.

So oder so – eine richtige Revolution hatte nicht stattgefunden. Der Run auf die Informationen war wohl größtenteils die Folge eines Phänomens, das Regime und Intelligenzija, wahrscheinlich nicht einmal bewußt, gemeinsam herbeigeführt hatten, nämlich der Überbewertung des Wortes. Aber vielen hatte nun eine kurze Kostprobe gereicht, um ihre Neugier zu befriedigen, und sie wandten sich anderen Dingen zu. Gleichzeitig brachen die Forschungsinstitute eines nach dem anderen auseinander, die Regierung strich alle Subventionen für die Wissenschaft. Die Verlage, die jetzt nicht mehr die üblichen Finanzspritzen bekamen, machten zu oder baten die Autoren, den Druck ihrer Werke selbst zu bezahlen.

Nichts war mehr, wie es immer gewesen war. Das Wort war billig, und die Wahrheit entzog sich genauso wie das Volk. Diejenigen, die noch der Vorstellung anhingen, daß sich die Intelligenzija würde Gehör verschaffen können, verloren diese Illusion in den ersten Monaten des Krieges in Tschetschenien. Hunderte von Menschenrechtlern, Schriftstellern und Journalisten setzten ihr Leben aufs Spiel, um die Grausamkeiten der Regierung zu dokumentieren. Und die Regierung tat etwas ganz Einfaches: Sie ignorierte die Protestschreie. Keiner wurde ins Gefängnis gesteckt, keiner wurde zensiert, keiner wurde auch nur ernst genommen – und die entschlossene Gleichgültigkeit der Regierung sorgte dafür, daß das Volk auch dieselbe Gleichgültigkeit an den Tag legte.

Nun könnte man angesichts dessen überzeugt sein, daß die Intelligenzija ihren Rang als selbsterwähltes Gewissen des Landes verloren hat. In der Tat hatte sie ihre Identität, ja ihre Daseinsberechtigung eingebüßt. Einige Angehörige der Intelligenzija wurden Politiker, andere wurden Priester, wieder andere wurden Geschäftsleute. Eine weitere Gruppe setzte ihre Untergrundarbeit fort und schuf dabei neue Institutionen wie Menschenrechtsorganisationen oder feministische Einrichtungen. Manches davon ist wirkungslos, anderes ist ganz offenkundig reaktionär und schlicht und einfach beängstigend, aber all dies zusammen wird im Laufe der nächsten Jahre die russische Gesellschaft prägen, die wahrscheinlich ihrerseits wieder irgendwo ein Gewissen entwickeln wird – und mit ein bißchen Glück wird zwischen dem Volk und diesem Gewissen nicht mehr ein unüberwindlicher Abgrund verlaufen. Wenn sie dieses lebenswichtige Organ nicht entwickelt, werden wir zweifellos eine Rückkehr der Intelligenzija erleben – wenn alles, was ihren Nährboden bildete, in der einen oder anderen Form wieder da sein wird. Übersetzung: Esther Kinsky

Masha Gessen ist Redakteurin der Zeitschrift „Itogi“ und politische Kolumnistin der Zeitung „Matador“. Im Verlag Antje Kunstmann ist soeben von ihr erschienen: „Auf den Erfolg unserer hoffnungslosen Mission. Die russische Intelligenzija“. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. München 1998, 260 Seiten, 36 DM