Überseeische Sehnsuchtsfiguren

Papierschiffchen der Hoffnung werden zu Wasser gelassen, und die Olsenbande buddelt Zwangsarbeiter aus dem Sand. Das Spektakel „Neue Welt“ der Freien Kammerspiele Magdeburg  ■ Von Hartmut Krug

Eine Idylle, von hohen Pappeln umstanden und von Wiesen umrahmt. Schilf und Röhricht trennen den Strand vom Schwimmbecken, die Pontonwand und der Sprungturm leuchten in rostigem Blau. Das Bad, Teil des mit Sportstadion und Freizeiteinrichtungen 1930 vor den Toren Magdeburgs eröffneten Erholungsgebietes „Neue Welt“, wurde 1990 geschlossen, angeblich aus sanitären und Sicherheitsgründen. Nun sucht die Stadt Investoren, die es auf die Höhe der neuen Zeit bringen sollen: als Spaßbad. Ein Ort, geprägt von Verfall und Natur. Ein Ort der Geschichte. Kulisse für das diesjährige Geschichtsspektakel der Freien Kammerspiele „Neue Welt Neue Welt Welt Welt“.

Seit 1993, als das Theater auf eine Wiese direkt am Elbufer zog, um vor der Kulisse der Stadt Figuren und Mythen aus Magdeburgs Vergangenheit aus dem Wasser steigen zu lassen, haben die Freien Kammerspiele jeden Sommer eine theatralische Exkursion in die Stadt und damit in deutsche und Magdeburger Geschichte unternommen. Bisher gab es ein Lutherspektakel in der Kirche, Kampf und Wettstreit der Nibelungen in einem Sportstadion, eine Offenbach-Operette zwischen den Maschinenhallen der stillgelegten Maschinenfabrik Sket und eine fulminante Geschichtsrevue an einem Binnenhafenbecken zu Wasser und zu Lande.

Gastregisseur Albrecht Hirche vom freien Hildesheimer Theater Mahagoni, der letztes Jahr vor dem Jenaer Theater das Spektakel „Finster, Schiller, Finster“ inszenierte, belebt das weite Gelände der „Neuen Welt“ rund ums Schwimmbad nun mit einer Szenenfolge, die im assoziativen Sprung durch die Zeiten Utopien aus Vergangenheit und Gegenwart unseres Jahrhunderts aufscheinen lassen will. Dabei bleiben die Fakten im vorzüglichen Programmheft: Hirche erzählt keine klare Geschichte, sondern montiert Angedeutetes.

Der mit Badeutensilien übersäte, menschenleere Strand belebt sich bald. Während im Hintergrund ein Flüchtling seinem Bündel ins Wasser hinterherspringt, während Wächter in orangenen Overalls entlangmarschieren, Papierschiffchen der Hoffnung zu Wasser gelassen werden und Modellschiffe ziviler und militärischer Art über die Wasserfläche kurven, während eine Familie in einer Minikrimi-Szene beschossen und von einem Auto in mörderischer Absicht verfolgt wird, während also an vielen Orten eher undeutliche Geschichten erzählt werden, landen vor dem Publikum am Strand mehrere Boote.

Wer hier aussteigt, nimmt das Mikrofon zur Hand und erzählt dem Publikum etwas. Der erste ist der Grieche Onassis, der seine Erfolgsstory aus der Neuen Welt im Osten Deutschlands wiederholen will. Er errichtet einen Strandgrill. Es folgen wie geklont wirkende, in Khaki-Uniformen gekleidete Wesen und Menschen in historischer, aber ironisch verfremdeter Strandkleidung. Zwei Bands spielen deutsche und lateinamerikanische Weisen, mal mit Baströckchen am Strand, mal über das Wasser, mal am Ufer entlang fahrend. Pappschilder mit Brustbildern überseeischer Sehnsuchts- und Werbefiguren werden herumgetragen. Fernweh und Wohlstandswunsch, Shakespeare und Huxley lassen grüßen.

Dabei sind wir in Magdeburg, wenn wir in Utopia sind. Unsere Wünsche haben die Medien fest im Griff. TV Brutal macht mit uns die neuen Schritte in die neue Welt nach der Wende und begrüßt im Publikum scheinbar anwesende Magdeburger Prominente aus vielen Jahrhunderten und allen gesellschaftlichen Bereichen.

Das Mittel der Fernsehshow- Parodie muß nun für viele Szenen herhalten: Mit Musik, Tanz und Gesang spielt man sich holprig durch eine Szenencollage. Ein deutscher Grill wird an den Strand gekarrt, und während Kohls Dresdner Verheißungsansprache aus Wendetagen von neuer Freiheit dröhnt, kommt es zu einem undeutlichen Austausch von Verbrüderungsgesten und Gewalt zwischen den Gästen der griechischen und deutschen Grillwelten.

Wildes, absichtsvoll unchoreographiertes Gewusel am Strand. Leider ohne szenische Naivität. Und ohne wirkliche szenische Kraft. Der Ort spielt nicht aus sich heraus mit, erzählt nichts von sich. Was hier passierte, muß aufgesagt werden. Zum Beispiel von einem, der als die DDR-Kinderbuchfigur Alfons Zitterbacke vorgestellt wird. Alfons, der Dauercamper, heute mit neuer Arbeit, aber ohne Frau. Der kleine Mann, der was wagt: Zum Schluß springt er vom Zehnmeterturm, der daraufhin in Flammen aufgeht – doch Jesus geleitet ihn im Boot an Land.

So zappt sich die Aufführung mit vielen Geschichten durch die Geschichte. Die Zeiten ändern sich und bleiben doch irgendwie gleich. Strandszenen aus der Südsee mischen sich mit deutschen Körperertüchtigungsszenen, Friedrich Wolf wird zur Freikörperkultur zitiert, Ibsens Volksfeind räsoniert über das Bad als Pestgrube, und erst nachdem das Publikum mit zuvor ausgeteilten Winkelementen zur Beteiligung an einem absurden Freundschafts- und Fröhlichkeitslied aus Schlingensiefscher Produktion animiert wurde, ist Schluß mit der Lustigkeit. Zwei Olsenbanden-Doppelgängergruppen buddeln statt des gesuchten Schatzes Opfer des Todesmarsches Magdeburger Zwangsarbeiter aus dem Jahre 1945 aus. In weiße Overalls gewandete Menschen suchen mit Detektoren den Strand ab und stellen Totenkopfschilder auf, und natürlich kommen auch die rechtsextremistischen Magdeburger Gewalttaten ins Bild.

Wenn schließlich eine liegende Freiheitsstatue übers Wasser fährt und alle Darsteller sich mit einem Hechtsprung vor dem Publikum in den Sand legen, dann endet unter Jubel eine bunte Bilderschau, die insgesamt doch eher blaß und undeutlich geriet. Anders als vorangegangene Magdeburger Sommertheater, ist „Neue Welt“ nicht mehr als ein Freilichtspektakel.