Diesseits im Kuscheldrom

Friedlich abhängen, ob zu Bob Dylan, Kraftwerk oder Rammstein. Das Roskilde-Publikum kennt Woodstock zwar nur vom Erzählen, hat Love & Peace aber verinnerlicht  ■ Von Gerrit Bartels

Ob die deutschen Zöllner im Fährhafen von Rostock wissen, wo genau das kleine Städtchen Roskilde in Dänemark liegt? Wahrscheinlich nicht. Daß sich aber dort einmal im Jahr Leute treffen, die nicht nur Musik hören wollen, sondern auch Drogen in rauhen Mengen konsumieren und verkaufen: Das glauben sie sehr genau zu wissen. Zu spüren bekommen das an diesem Donnerstagmorgen vor allem diejenigen, die mit alten, verbeulten oder angemalten Autos vorfahren und lange Haare, Tattoos oder Piercings tragen. Bei ihnen werden die Personalien genau überprüft, bei ihnen schnüffeln kleine Hunde in den Autos, und sie müssen ihre Taschen bis auf das letzte Hemd auspacken.

Eine überflüssige und für beide Seiten unangenehme Prozedur, von der eigentlich ganz brav aussehende, dreißigjährige Männer wie wir (mit einem forstgrünen Golf!) dachten, sie würde in Europa der Vergangenheit angehören. Doch für Rockfestivals scheint an den Grenzen nach wie vor höchste Alarm- und Einsatzbereitschaft zu gelten. Das vier Tage dauernde Roskilde-Festival macht da keine Ausnahme. Obwohl gerade hier eine Menge dafür getan wird, daß die überwiegend aus Skandinavien und Deutschland anreisende Jugend nicht auf die schiefe Bahn gerät und darüber hinaus sogar soziales Bewußtsein entwickelt.

Viel gelassener als an der Grenze geht es dann auch in Roskilde selbst zu. Es gibt zwar einige Einwohner, die die dreißig Kilometer südlich von Kopenhagen liegende Stadt an diesem Wochenende lieber verlassen. Doch ein früherer Bürgermeister beschreibt die sich über die Jahre gewandelte Einstellung der Stadt zu „ihrem“ Festival so: „Once we were afraid of the festival. Now we're afraid of losing it!“

Daß das nicht passiert, dafür tun die Roskilder einiges, schließlich ist für die Gemeinde das Festival zugleich Geldquelle und internationales Aushängeschild. Sein Charme und die gelassene Atmosphäre basieren nicht zuletzt auf dem Einsatz der vielen freiwilligen Helfer. Hier kontrollieren Hausfrauen die Eintrittsbänder, hier sorgen deren Söhne dafür, daß die hygienischen Anlagen in einem einigermaßen akzeptablen Zustand sind, hier verkaufen Familienväter Bier und schneiden Zwiebeln fürs Kebab.

Viel Wert wird bei den Veranstaltern darauf gelegt, ein weitgehend „antikommerzielles“ Festival mit nur einem Hauptsponsor (Carlsberg-Brauerei) auszurichten. In der Tat sind bis auf die Bierstände fast alle Buden werbe- und sponsorenfrei, sie haben Flohmarkt-Charakter, und insbesondere die Stände, an denen Schmuck und Klamotten verkauft werden, sehen so aus, als wäre der Bestand an Waren schon in den Sechzigern und Siebzigern angelegt worden.

Und schließlich begleitet einen auch in diesem Jahr auf Schritt und Tritt der gute und wohltätige Zweck dieser Veranstaltung, die Tatsache, daß das Roskilde-Festival einen Großteil seiner Gewinne an karitative Einrichtungen abtritt: Stellvertretend für die von ihr unterstützte amerikanische Organisation Rape, Abuse & Incest National Network (Rainn) erhält Tori Amos bei ihrer Show am Donnerstag abend von der Roskilde Charity Society einen Scheck über 25.000 Dollar.

Zwischen den Konzerten der Stranglers und Pulp bekommen die Mediziner ohne Grenzen ebenfalls einen Scheck überreicht. Und auch die Rede, die der Vorsitzende von amnesty international hält, hat schon Tradition und steht gleichberechtigt neben den Auftritten der Bands im Programmheft.

Manchmal wirkt soviel soziales Bewußtsein und Engagement fast übertrieben und verdächtig. Wenn man dann noch das Roskilde-Amt mit Aufklärungsbroschüren und einem Kondomzelt („Wake Up, Happy!“) am Werke sieht, fürchtet man ein wenig um die Selbstverantwortlichkeit vieler Besucher.

Doch all das hat, selbst wenn Scheckübergaben und Reden nicht auf allzu große Aufmerksamkeit stoßen, durchaus seine positive Wirkung. In Roskilde kommt ein Publikum zusammen, das Woodstock zwar nur aus dem Fernsehen und den Erzählungen der Eltern kennt, die damaligen hehren Vorgaben von Liebe und Peacefulness aber ohne weiteres verinnerlicht zu haben scheint. Die meisten Leute sehen aus wie eine Kreuzung aus Hippies, Punks und Benetton-Jugend, man ist gleichzeitig modebewußt und nachlässig, man kennt sich aus in Stilbrüchen.

Vielleicht ist es auch nur das Wetter – das übrigens durchwachsen ist, regnen tut es aber nur nachts –, das die Kleiderordnung bestimmt. Doch von sich über bestimmte Codes und Zeichen definierenden Gruppen ist auf dem Gelände weit und breit nichts zu sehen. Irgendwie sehen alle gleich und auch gleich langweilig aus. Selbst ein Pärchen, das einen Kinderwagen mit einer automatisch schreienden Babypuppe vor sich herschiebt, fällt kaum auf. Die Atmosphäre ist friedlich, es geht halt darum, möglichst viele Bands zu gucken, Bier zu trinken, Dope zu rauchen oder sich für ein Schäferstündchen zu zweit irgendwo hinzulegen.

Überall gibt es zwar grölende Männergruppen, doch gerauft wird nie, bei den Konzerten wird gedrängelt und geschubst wie anderswo auch, doch immer mit einem Lächeln im Gesicht oder einer angedeuteten Entschuldigung auf den Lippen. Zum Abbau möglicherweise aus Langeweile entstehender Aggressionen sorgen organisierte Ring- oder Wikingerkämpfe, ein Hau-den-Lukas-Stand und auch die immer wieder auftauchenden Kleinkunstgruppen.

Wie aus einer anderen Welt scheint da einer wie Alec Empire zu kommen. Der schleudert bei seinem Auftritt mit Atari Teenage Riot den Spruch „Riot sounds produce riots“ dem Publikum ins Antlitz. Doch an Riots welcher Art auch immer denkt hier keiner. Fröhlich wird Pogo getanzt, nur hinten guckt man etwas verwundert ob der energiegeladenen, manchmal fast hypertroph wirkenden Vorstellung der Berliner Band.

Bei aller Wohltätigkeit ist man allerdings auch in Roskilde jedes Jahr darauf bedacht, ein hochkarätiges Musikprogramm zusammenzustellen. Nach den Absagen von Kylie Minogue, Morissey, A Tribe Called Quest oder Marilyn Manson fürchteten die Veranstalter vorher, wie schon im letzten Jahr, eine angeblich „glanzlose Variante“ des seit 1971 stattfindenden Festivals präsentieren zu müssen. Dementsprechend aufgebracht ist die Festivalleitung über die kurzfristige Absage von The Verve, einem Headliner des Musikprogramms.

Über Presseinfos teilt sie mit, Magenprobleme eines der Bandmitglieder hätten zu der Absage geführt, das „ärztliche Bulletin“ aber liege nicht vor, und überhaupt sei die Auftrittspolitik von The Verve extrem undurchsichtig.

Doch es dürfte Schlimmeres im viertägigen Leben eines Roskilde- Besuchers geben als eine Absage von The Verve. Sich live durch verschiedene Musikgenres zu zappen ist auch dieses Jahr überhaupt kein Problem. Oder eben doch: Die Qual der Wahl besteht oft genug. Die Beastie Boys sind da, spielen einen furiosen Set und fragen das Publikum, aus welchen Ländern es wohl komme und ob da vorne nicht auch jemand aus Manhattan stehen würde. Auch Bob Dylan tritt auf, und Detering, unser mitfahrender Dylan-Fachmann, erklärt, er habe den Meister noch nie so gut und entspannt gesehen.

Für Glanz, Größe und Historizität sorgt schließlich auch der Gig von Kraftwerk, die in Roskilde angeblich ihr einziges europäisches Konzert geben. Fast wichtiger als die Musik ist bei ihnen die Choreographie. Einheitliche Anzüge, Bewegungslosigkeit, vier Monitore im Background, über die die Lyrics computeranimiert zu lesen sind, vier Mischpulte vor jedem der vier Kraftwerker, die sie aber nicht wirklich bedienen.

Wenn die Stücke zu lange dauern, klatscht das Publikum unmotiviert mit. Als bei den ersten Takten und Horrorinfos von „Radioaktivität“ alle begeistert jubeln, weiß man: Bei aller Friedfertigkeit und Retroattitüde würde hier wirklich keiner auf den Gedanken kommen, noch mit „Atomkraft – nein danke“- oder Friedenstauben- Stickern herumzulaufen. Es sind eben doch die späten Neunziger, und Kraftwerk passen da immer noch gut.

Vor ihrem Auftritt gibt es den Film „Modulations“, ein Parforceritt nach MTV-Art durch die Geschichte der elektronischen Musik, sowie einen Techno-Set des deutschen DJs Hell. Überhaupt scheint man dieses Jahr den „Themenabend“ zu bevorzugen.

So spielen die Metalacts Soulfly, Slayer und Black Sabbath nacheinander auf der orangenen Bühne, und so kommen die meisten deutschen Acts aus Berlin: neben Atari Teenage Riot noch Stereo Total und Aziza A. sowie Rammstein, deren dumpfer, sehr teutonischer, von starken Winden und Wetterleuchten begleiteter Feuer-Wasser-Blut-und-Sperma- Auftritt genauso fasziniert wie abstößt.

Daß Rammstein ebenfalls intensiv nach Drogen untersucht wurden, wie uns das der stiernackige Zöllner auf der Rückfahrt ungefragt erzählt, beruhigte dann übrigens am Ende ungemein.