Tränengas im Gerichtssaal in London

1993 wurde der schwarze Jugendliche Stephen Lawrence getötet. Die mutmaßlichen Täter konnten wegen schlampiger Ermittlungen nie belangt werden. Jetzt sagen sie vor einer Untersuchungskommission aus  ■ Von Ralf Sotscheck

Dublin (taz) – Fünf Jahre lang hatten Neville und Doreen Lawrence auf diesen Augenblick gewartet. Die fünf Jugendlichen, die sie für die Mörder ihres Sohnes Stephen halten, mußten in London vor einer unabhängigen Untersuchungskommission aussagen. Doch dann brach Chaos im Gerichtssaal aus. Mitglieder der Nation of Islam, deren US-Führer Louis Farrakhan in Großbritannien nicht einreisen darf, marschierten in den Saal und beschuldigten den Richter, die Öffentlichkeit von der Untersuchung auszuschließen und die Rechte von Schwarzen zu mißachten. Bei dem Versuch, die mit schwarzen Anzügen, weißen Hemden und roten Fliegen bekleidete Gruppe aus dem Gebäude zu drängen, setzte die Polizei CS-Gas ein, vier Sicherheitsbeamte mußten ins Krankenhaus, die Untersuchung wurde für drei Stunden unterbrochen.

Bei dem Fall, der hier untersucht wird, geht es um den Mord an einem 18jährigen Schwarzen, begangen von weißen Rassisten. Rassistische Übergriffe sind in Südostlondon an der Tagesordnung – doch im Fall von Stephen Lawrence hat die Polizei so viele Fehler gemacht, daß man an Zufall kaum glauben mag. Als Folge der schlampigen Ermittlungen können die fünf mutmaßlichen Mörder, die inzwischen Anfang 20 sind, für die Tat nicht mehr bestraft werden, ihnen droht höchstens ein kurzer Gefängnisaufenthalt, falls sie vor der Untersuchungskommission falsch aussagen.

Sie können sich angeblich nicht mehr erinnern, was an jenem 22. April 1993 geschehen ist. Stephen Lawrence hatte in der Wohnung eines Freundes in Eltham ein paar Schallplatten gehört und war mit seinem Freund Duwayne Brooks auf dem Heimweg nach Woolwich. An der Bushaltestelle wurden sie von einer Gruppe weißer Jugendlicher überfallen und mit Messern attackiert. Ein Messerstich traf Stephens Lunge. Er verblutete, weil der erste Polizist am Tatort nicht merkte, wie schwer der Teenager verletzt war.

Es war nicht der einzige Fehler der Polizei. Ihre Nachforschungen konzentrierten sich zunächst auf das Opfer. Lawrences Eltern wurden verhört, die Polizei wollte wissen, ob Stephen irgendwelchen Jugendbanden angehörte. Doreen Lawrence beschwerte sich, daß sie von der Polizei wie „ein gutgläubiger Trottel“ behandelt worden sei. Die mutmaßlichen Täter, deren Namen der Polizei von Anfang an bekannt waren, wurden erst drei Monate später festgenommen. Die Staatsanwaltschaft stellte den Fall sogleich aus Mangel an Beweisen ein – trotz deutlicher Indizien: Die Stoffasern an Stephen Lawrences Händen stammten von der Jacke des Tatverdächtigen Gary Dobson. Unter dem Bett seiner Freundin fand die Polizei die mutmaßliche Tatwaffe. Dobson und die anderen wurden am Abend des Mordtages beobachtet, wie sie blutverschmierte Kleidung wuschen.

Auch die Privatklage der Lawrence-Familie gegen die fünf Tatverdächtigen scheiterte gleich am Anfang: Der Richter ließ den Augenzeugenbericht von Duwayne Brooks nicht als Beweismittel zu. So bekamen die Geschworenen die mit versteckter Kamera gedrehten Videoaufnahmen der fünf Angeklagten nie zu Gesicht. Einer von ihnen, Neil Acourt, sagte, „Nigger müßten zerstückelt“ werden. Ein anderer, David Norris, dessen Vater enge Verbindungen zur Polizei haben soll, sprach davon, daß Schwarze „erschossen, gehäutet und verbrannt“ gehörten. Dabei fuchtelten sie mit Messern herum. Die Bemerkungen seien als Witz gemeint gewesen, sagte Acourts Bruder Jamie vorgestern bei der Untersuchung, die Messer hätten sie sich erst besorgt, als sie sich wegen des Tatverdachts bedroht fühlten.

Die Polizei hat sich inzwischen bei der Lawrence-Familie für die Fehler entschuldigt. Brian Weeden, Chef der Mordkommission, räumte ein, er habe gar nicht gewußt, daß bereits der Tatverdacht zur Verhaftung ausreiche. Die fünf jungen Männer verließen den Gerichtssaal, gingen langsam an den schwarzen Demonstranten vorbei und bespuckten sie.