Die Zeit zum Feind der Erzählung erklären

■ Der große Mainstream-Film und die kleine unabhängige Produktion: Mit „Jerusalem“ geht Bille August dem großen Publikum wieder aus dem Weg, ohne das cineastische zu überzeugen

Der Däne Bille August hat zwei Gesichter: ein künstlerisches und ein kommerzielles. Der Wechsel vom großen zum kleinen Saal und wieder zurück zieht sich durch seine ganze Karriere. Mal dreht er einen großen Mainstream-Film (zur Zeit gerade „Les Misérables“), dann wieder eine kleine unabhängige Produktion. 1987 schaffte er mit „Pelle der Eroberer“ den Durchbruch, einem internationalen Publikum bekannt wurde er aber erst mit der Eichinger-Produktion „Das Geisterhaus“ (1993). Mit seinem neuen Film „Jerusalem“ geht er einem großen Publikum wieder aus dem Weg und stellt sich mit seiner Studie zu den Werten des Zusammenlebens in eine Tradition dänischer Regisseure, die von Carl Theodor Dreyer bis zu Lars von Trier reicht.

Die Bewohner eines kleinen Dorfes im Schweden des 19. Jahrhunderts haben ihren geistigen Hirten verloren. Oder verstoßen. Der alte Vikar (Max von Sydow) gibt etwas kleinlaut zu: „Na ja, ein begnadeter Redner war ich ja noch nie.“ Die Bewohner wollen ihr Leben selber in die Hand nehmen und liefern sich dadurch nur anderen aus. Dem amerikanischen Prediger Hellgum zum Beispiel, der einen Teil der Gemeinde zu seiner Sekte bekehrt. Nur einer hat die Kraft, die Menschen wieder zusammenzubringen: Ingmar, Sohn des verarmten Ingmarshofes (Ulf Friberg). Um die Familientradition weiterführen zu können, willigt Ingmar schweren Herzens in die Ehe mit der Tochter eines Großbauern (Pernilla August) ein. Und läßt seine große Liebe Gertrud (Maria Bonnevie) sitzen. Als die ihm am Hochzeitstag das verloren geglaubte Geld aus einer Erbschaft gibt, ist Ingmar fassungslos. Wenn sie früher gekommen wäre, hätte das Schicksal einen anderen Verlauf genommen. „Nicht ich habe die Entscheidung getroffen. Deine Liebe war nicht stark genug“, sagt sie ihm allerdings. Was das Ende einer (traurigen) Geschichte sein könnte, ist hier nur der Anfang eines Kampfes gegen Konventionen und ein scheinbar übermächtiges Schicksal.

Viel zu lachen gibt es nicht in Bille Augusts neuem Film. Doch was bei der Kameraführung eines Janusz Kaminski in Spielbergs „Amistad“ zum Beispiel ganz nebenbei gelingt, muß hier mit der Sprache des Holzhammers verdeutlicht werden. Es steht nicht gut um die Menschen, deshalb gewittert und donnert und schneit und regnet es in dem Film, daß einem Hören und Sehen vergeht. Das überrascht, wenn man bedenkt, daß August seine Karriere einmal als Kameramann begann. Ansonsten zeichnet den Film das übliche Bille-August-Gehetze aus. Er rennt durch die Geschichte, als wollte er einen Kurzfilm drehen. Die Zeit begreift August meist als Feind der Erzählung. Und doch kommt es immer wieder zu Momenten voller Poesie und Stärke. Wenn die verdurstende Gertrud das faule Brunnenwasser ablehnt, fällt dem Pfleger eine Geschichte ein, durch die er Gertrud überzeugt, das Wasser doch zu trinken. Manchmal gelingt es Bille August, diese Kraft der Worte auch auf seinen Film zu übertragen. Alexander Remler

„Jerusalem“. Buch und Regie: Bille August. Mit Maria Bonnevie, Ulf Friberg, Sven-Bertil Taube, Pernilla August, Max von Sydow. Schweden 1996, 168 Minuten