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Dufte Geschichte

■ Die Geschichtswerkstatt Ottensen erriecht ihren Stadtteil im Rundgang

Gerüche sind Erinnerungen. Bis tief in die Kindheit kann die Nase uns zurückgeleiten: Von duftem Wohlgefühl bis zu stinkendem Ekel reicht dann die Skala der Empfindungen. Dem Ruf Riech 'ma, das is' Ottensen folgten Mittwoch nachmittag 50 Menschen und ein Hund, die sich vom Stadtteilarchiv Ottensen auf einem „Spürgang zur Geruchsgeschichte“ die Schleimhäute kitzeln ließen.

In Ottensen gibt es längst verwehte und immer noch in der Luft schwebende Düfte. So versetzt der Hühnerhof der Motte den Besucher kurzfristig in die frische Landluft des vorindustriellen Dorfes. Gebündelte Tabakblätter an einem Gebäude verweisen auf die verschwundene Tabakindustrie des Stadtteils. Eine mitgebrachte handgerollte Zigarre, eine „Echte Mottenburger“, verströmt beim „Spürgang“ nicht nur milden Qualm, sondern veranlaßt die Mitarbeiterinnen des Archivs, über die Tuberkulose erzeugenden Arbeitsbedingungen der Heimarbeiter zu berichten. Auch die Gewürzmühle Petersen, laut Türschild „Rösterei und Drogenbearbeitung“, ist ein Stück Stadtteilgeschichte. 1856 gegründet, war ihr Standort Ende der 80er Jahre wegen der geruchsbelästigenden Produktion gefährdet.

Zum Abschluß wetteiferten die TeilnehmerInnen um die beste eigene Geruchserinnerung. Unschlagbar die Geschichte von Mariechen Schwarten „Gerüche auf meinem Schulweg von 1921 bis 1931“. Fast 20 verschiedene Riechstellen verortete die gebürtige Ottenserin auf dem kurzen Weg von der Zeißstraße zur Schule.

Gerüche gehören zum Alltag und sind ein Indikator für Befindlichkeiten. In der französischen Alltagsgeschichte hat das Thema bereits Tradition. Das Ottenser Stadtteilarchiv möchte Stadtteilgeschichte mit der Wahrnehmung über den „ältesten Sinn der Menschheit“ verknüpfen. Das ABC der Gerüche soll in ein Lexikon münden und ein Riechkoffer für Schulkinder zusammengestellt werden. Und wie endet die Geschichte von Frau Schwarten? „Wie es in der Schule roch, weiß ich nicht mehr.“ Gerüche sind Erinnerungen – Erinnerungen sind selektiv. Thomas Schulze

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