Mon Dieu Mondial
: Sieben überfällige Tabus

■ Wie besteht man im Fußballgerede der restlichen WM-Tage? – Ein Vademecum

Langsam wird es ernst. Die Reggae Boyz und die Japaner sind abgereist. Die afrikanische Spielfreude taugte nur eine Vorrunde lang. Keine Fernsehkamera mehr, die Ausschau hält nach hüpfenden weiblichen Fanmassen. Wo Sex und Folklore war, regiert jetzt das K.o.- System. Die Party ist vorbei. Mit sinkender Spielfrequenz erhöht sich nunmehr der Pegel des Fußball-Geredes. Statt Ballkontakt und Eckballverhältnis zählt man Distinktionsgewinne. Erst recht im Feuilleton. Ein geschätzter Kollege wurde kürzlich sogar dabei ertappt, wie er ohne Quellenangabe die Ansichten Kalli Feldkamps paraphrasierte.

Folgende Diskursregeln sollen helfen, derartige kommunikative Unfälle zu vermeiden.

1. Fernsehkommentatoren: Sie sind so ziemlich das Letzte, womit in den verbleibenden WM-Tagen die Beschäftigung lohnt. „Die deutsche Mannschaft hängt ziemlich durch“, analysierte Johannes B. Kerner, und genauso steht es um die Kritik am Geschwätz unserer Mediatoren. Mit Faßbender-Witzen sind keine Punkte mehr zu machen. Und will sich allen Ernstes jemand mit Wilfried Mohren beschäftigen?

2. Kein Wort mehr über Spieler-Dummdeutsch: Laßt sie Tagebuch schreiben, laßt sie schwäbeln, quengeln, beleidigt sein und Walkman hören. Wo zählt, ist vorm Mikrophon, aber der Genießer der letzten Tage hört und schweigt.

3. Schluß mit dem Nachdenken über taktische Mysterien: Vermeiden Sie Stöhnlaute, wenn Andy Möller gegen Kroatien in der 70. Minute eingewechselt wird. Wundern Sie sich nicht länger darüber, daß Berti Vogts immer noch an Christian Ziege glaubt. Derlei Rätsel sind historische Konstanten der Fußballbeobachtung. Erinnern Sie sich noch an Helmut Schöns Vorliebe für Erich Beer? Keinem von beiden hat sie wirklich geschadet. Und uns auch nicht.

4. Versuchen Sie nicht, das deutsche Nachwuchsproblem zu lösen: Selbst in den dritten Ligen, so die beliebte Schnellanalyse, sind fast immer polnische und kroatische Gastspieler die Leistungsträger, die unserem Nachwuchs die Plätze wegnehmen. Im deutschen Fußball geht es zu wie am Potsdamer Platz. Streuen Sie mit ihren Bemerkungen nicht ständig Salz in die Wunde. Das schadet dem Wirtschaftsstandort. Im Fußball gibt es nie Erkenntnis-, sondern immer nur Umsetzungsprobleme. Allzu schlaue Analysen erhöhen den Reformstau im Mittelfeld.

5. Die Ästhetik des Fußballs zeitigt keine politischen Folgen: Selbst wenn Deutschland Weltmeister wird, bleibt Helmut Kohl nicht Bundeskanzler. Die Engländer haben gegen Argentinien zwar gespielt, wie Tony Blair regiert, am Ende aber dennoch verloren. Glauben Sie mir: Aus dem Geschehen auf dem Rasen folgt politisch rein gar nichts. Nigerias Aus schadet dem neuen Diktator ebensowenig wie ihm weitere Siege genützt hätten. Wer derlei kundtut, macht sich verdächtig, gleichwenig von Fußball und Politik zu verstehen. Halten Sie sich an die Dänen. Einfach gewinnen und sich freuen.

6. Bekämpfen Sie den rasendeutschen Selbsthaß: Mit rasendeutschem (ein Wort der geschätzten Wahrheit-Kollegin) Mit Selbsthaß ist der in Fankreisen des gebildeten Mittelstands häufig anzutreffende Wunsch nach Selbstbestrafung gemeint, demzufolge die Deutschen am Ende doch lieber verlieren sollten. Eine Niederlage ist politisch korrekt und erhöht die Intensität des Leidens am Bildschirm. Zur Abmilderung des Schuldkomplexes hilft angstvolles Zucken, wenn Köpke den Ball fallen läßt. Machen Sie den Test. Die Gelegenheit wird kommen.

7. Vermeiden Sie jede Form von Regelhaftigkeit. Harry Nutt

Der Autor ist Kulturredakteur der taz