■ Die Kritik am atomaren Wettlauf zwischen Indien und Pakistan ist bigott. Denn von atomarer Abrüstung will der Westen nichts wissen
: Wenn Räuber „Haltet den Dieb“ rufen

Die Atombombentests Indiens und Pakistans haben die dortigen Massen in einen nur sozialpsychologisch erklärbaren Potenzrausch versetzt. Sie identifizieren sich mit ihren atomwaffenzündelnden Regierungen, weil diese dem Herrenclub der Atommächte ein Ebenbürtigkeitsgefühl vorbombten – und keineswegs, weil sie nichts über die atomaren Vernichtungspotentiale wissen, wie uns westliche Kommentatoren suggerieren.

Umgekehrt identifizieren sich die Menschen in den USA und in Europa mit ihren Regierungen, weil sie deren mit heiligem anti- atomaren Ernst vorgetragene Kritik an den Tests für glaubwürdig halten. So warf Clinton in China gestern Indien und Pakistan noch einmal vor, ihre Ressourcen für die atomare Aufrüstung zu verschleudern. Doch dieses Argumentationsmuster ist verkehrt, verzerrt und falsch. Denn an der Spitze des internationalen Atomtestprotests stehen die Regierungen der – so der seit Jahrzehnten gültige Begriff – atomaren haves, die nach wie vor mit mehrfachen globalen Overkill- Kapazitäten ausgerüstet sind und zudem ganz offiziell atomare Einsatzstrategien haben. Auf der Anklagebank sitzen jetzt bisherige have-nots, die den Anspruch atomarer Klassenherrschaft der Atommächte nicht anerkennen.

Das Problem, das mit den indischen und pakistanischen Atomtests auf der Tagesordnung steht, stinkt vom Kopf her – da die Atommächte die eigentlichen Urheber dieser Atomtests sind. Jede Empörung über die atomglühenden Newcomer ist bigott, solange die sich Empörenden gleichzeitig an der offiziellen atomaren Abschreckungsstrategie der Nato festhalten.

Seit 1970 gilt der atomare Nichtverbreitungsvertrag. Darin verpflichten sich die have-nots, keine Atomwaffen herzustellen oder zu besitzen – und die Atommächte zu genereller atomarer Abrüstung. Doch die Atommächte baten anfangs um die Geduld der nichtatomaren Staaten, weil in den Zeiten des Ost-West-Konflikts die atomare Abrüstung nur durch mühsame amerikanisch-sowjetische Verhandlungen erreichbar war. Immerhin wurden solche Verhandlungen aufgenommen und führten auch zu partiellen Ergebnissen: zu Salt I und II, zur Nulllösung bei Mittelstreckenraketen. Ohne diese Bemühungen wäre der Nichtverbreitungsvertrag, der alle fünf Jahre von einer Konferenz überprüft wird, schon lange geplatzt. Was von den have-nots immer vorrangig angemahnt wurde, war wenigstens ein vollständiger Stopp aller Atomtests. Lange vergeblich.

Mit der Auflösung des Warschauer Pakts und der großen politischen Wende im Osten wurden die Karten neu gemischt. Die beiden klassischen Gründe für die atomare Abschreckungsstrategie der Nato waren gegenstandslos geworden: die vermeintliche konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts und die atomare Balance zwischen den USA und der Sowjetunion. Das Fenster für weltweite atomare Abrüstung war Anfang der 90er Jahre sperrangelweit offen. Doch die Nato dachte keine Sekunde daran, diese Gelegenheit zu ergreifen. In der Siegerhybris, sich nunmehr allein auf der Welt zu fühlen, werden seitdem die Befindlichkeiten anderer mehr ignoriert als je zuvor.

Auf der Nato-Gipfelkonferenz im November 1991 in Rom wurde ungerührt im „Neuen strategischen Konzept des Bündnisses“ die atomaren Abschreckung bekräftigt, nun begründet mit den „vielfältigen neuen Risiken“ an der „südlichen Peripherie“, „einschließlich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme“. Zur „Lösung des Problems“ wurden „komplementäre Ansätze, einschließlich beispielsweise Ausfuhrkontrolle und Raketenwahl“, einvernehmlich beschlossen. Dies erfolgte ein halbes Jahr nach der militärischen Exekution des Irak mit modernen konventionellen Waffentechniken.

An ihrer Südflanke ist die Nato allen nordafrikanischen und Nahost-Staaten zusammen auch numerisch fünffach überlegen. Nur ihre Flotte ist im Mittelmeer und am Persischen Golf präsent, ihre Luftüberlegenheit ist überwältigend. Zudem verfügt kein Staat in der dortigen Region (außer Israel) über Atomwaffen. Doch die Nato weigerte sich beharrlich, atomar abzurüsten. So strafte sie ihre bisherige Rechtfertigung für die westliche Atombewaffnung Lügen. Right or wrong, unsere Atomwaffen!

Die in Rom beschlossene neue Nato-Strategie war eine provozierende Einladung an have-nots zur atomaren Bewaffnung. So kam es. Erst folgte die iranische Vorbereitung von Atomwaffentests, dann der Atomwaffentest in Indien und Pakistan. Weder die USA noch eine andere Nato-Regierung reagierten, als Boris Jelzin seit 1992 mehrfach die vollständige Atomabrüstung vorschlug – als der einfachsten Möglichkeit, die immensen Eigenrisiken und Folgekosten der sowjetischen Atomrüstung loszuwerden.

Erst vor der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages 1995, als es um die unbefristete Verlängerung dieses Vertrages ging, bemühte man sich nun endlich, wenigstens zu einem globalen Teststoppvertrag zu kommen. Diesen gibt es inzwischen, aber ohne die Unterschrift Indiens und Pakistans. Denn die USA testen die Wasserstoffbombe mittlerweile im Labor; und die weltweite Abrüstung vorhandener Atomwaffen war in den 90er Jahren ein Tabuthema.

Die wohlfeile Begründung, daß diese Abrüstung gar nicht mehr realisierbar sei, da dies niemand mehr kontrollieren könne, ist eine verdummende Ausrede. 1995 wurde das weltweite Verbot der Chemiewaffen vereinbart – und dies ist angesichts einer umfangreichen Liste von Ausgangsstoffen für chemische Waffen wesentlich schwerer zu kontrollieren als ein Atomwaffenverbot. Die einzige glaubwürdige Konsequenz aus den indischen und pakistanischen Atomwaffentests ist die unverzügliche atomare Abrüstung. Solange diese Bereitschaft nicht besteht, sind die Kritiker dieser Tests in der Rolle von Räubern, die dazu aufrufen, Diebe aufzuhalten.

Selbst in der SPD-Sicherheitspolitik der 90er Jahre ist keine Rede mehr davon, sich von der Atomabschreckung zu verabschieden. Und die Grünen? Realistische Sicherheitspolitik heißt, endlich die vollständige Atomabrüstung auf die Tagesordnung der Nato zu bringen. Deutschland, das zweitgrößte Mitglied des Bündnisses, sein größtes nichtatomares Mitglied, könnte sich dafür einsetzen. Das wäre ein mehrheitsfähige politische Innovation. Hermann Scheer