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So war es wirklich

Am Ende sollen mehr Milliarden die Spiele der Fußballweltmeisterschaft gesehen haben, als es Menschen gibt. Auch wenn sie alle in dieselbe Richtung blickten, das Mädchen in Montpellier haben sie verpaßt  ■ Von Peter Unfried

Da war ein Mädchen in Montpellier. Das stand vor dem Stade de la Mosson und trug ein Trikot der deutschen Fußballer. Der Dreß war leicht verschmutzt. Aber hinten stand eindeutig das Wort „Häßler“ zu lesen. Sofort der Gedanke: War das etwa echt?

Oui, sagte das Mädchen und lächelte. Sie habe es eben wirklich von Thomas Häßler bekommen. Wie? Und warum sie? Und nicht irgendein mexikanischer Gegenspieler, dem es doch von Rechtswegen zustand? Das Mädchen vermochte es nicht zu sagen. Neben ihr stand aber ein Junge, der sagte, er wisse es. „Sie hat es bekommen, weil sie schön ist“, sagte dieser Junge. „Sie ist schöner als er.“

Ja, und da blies auch schon ein sanfter Wind herüber, und fröhliche Polizisten fuhren in Bussen davon, und einer der Polizisten hatte einen Kaiser-Wilhelm-Bart. Und dann wurde zusammengekehrt, und eine Stimme sagte, daß das jetzt das letzte Spiel in Montpellier gewesen sei, danke, und man solle gut nach Hause kommen.

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Es war wirklich so. Augen haben es gesehen. Es war nicht einmal der Fernseher dazwischen, über den nach relativ sicheren Prognosen am Ende sehr viel mehr Milliarden die Fußball-WM gesehen haben werden, als es tatsächlich Menschen gibt. Die gefürchtete Frage ist ja: Kann man denn am Fernseher wirklich sehen, was bei dieser WM passiert? Diese Antwort ist einfach: Natürlich nicht. Man kann nur sehen, was auf dem Bildschirm ist – aber nicht darüber hinaus.

Die noch viel gefürchtetere Frage aber ist: Was kann man in der Wirklichkeit sehen? Wieviel? Weiß man mehr, wenn man dabei war, als – daß man dabei war? War man tatsächlich „dabei“? Die Eintrittskarten und Mixed-Zone-Tickets liegen im Koffer und sind jederzeit einsehbar – die Spesenabrechnungen belegen alles. Die Artikel natürlich auch. Hier steht es doch: „Klinsmann symbolisiert das Prinzip des solidarischen Sich-den- Arsch-Aufreißens.“ Ja! Dafür ist man seit vier Wochen in Frankreich, schaut Training und Spiele und schreibt Sätze auf. Klinsmann war sogar zum Kaffeetrinken vorbeigekommen. Da sagte er aber kein Wort davon, daß er das Prinzip des Sich-den-Arsch-Aufreißens symbolisiere. Sonst auch nie. Es muß aber so sein, es steht ja da. Und zwar deshalb, weil man es gesehen hat. Erlebt.

Es waren wirklich beeindruckende, unverzerrte Erlebnisse.

Oder doch nur: Gefühle, Ahnungen, wie alles gewesen sein könnte? Genauso, wie wenn man den verdammten Fehler macht, über sein Leben nachzudenken.

Jetzt nicht wieder sentimental werden, konzentrieren!

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Es war wirklich so. Es fuhr ein Zug nach St. Etienne. In dem fragten die Engländer die Norweger, ob sie auch ein Fußballied hätten. Letztere mußten das zugeben und zur Strafe auch umgehend vorsingen. Let's do it, let's do it, so ging das Lied. Actually, very good, sagten die Engländer. Sie selbst hatten aber natürlich mit „Three Lions“ den besten Fußballsong überhaupt. „I remember that tackle by Moore“, summten sie auch schon, und einer sagte, er erinnere sich tatsächlich an Bobby Moores Grätsche. Das sei damals gegen Brasilien gewesen. Und „Nobby dancing“? Das war 1966 in Wembley nach dem Finale. Der Wortführer, der 1965 geboren wurde, sagte, er habe Stiles damals tanzen sehen. „Ich erinnere mich nicht, wie Nobby tanzte“, sagte er, „aber ich fragte meinen Dad: Dad, habe ich es gesehen? Und Dad sagte: Ja, das hast du, mein Sohn. Jetzt weiß ich, daß ich es gesehen habe.“

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Es war wirklich so. Zwei Österreicher waren auf dem Weg aus dem Gare de Lyon. Einer beschleunigte und überholte eine vor ihnen gehende junge Frau mit langen, blonden Haaren. Dann blieb er unvermittelt stehen und ließ die Frau passieren. Aus einer enttäuschten Bemerkung war zu schließen, aus welchem Grund er diese Aktion unternommen hatte. „Du weißt es ja eh“, sagte er dann zu dem nachgerückten zweiten Österreicher, „wenn Rob Rensenbrink in der 90. Minute nicht an den Pfosten geschossen hätte, wäre Holland Weltmeister gewesen.“ Jeder weiß das ja eh. Ein zufällig dazu befragter Niederländer sagte aber: Wenn Rensenbrink den Ball ins Tor geschossen hätte, hätte der Schiedsrichter nachspielen lassen, bis Argentinien ausgeglichen hätte. Sowohl die Österreicher als auch der Niederländer waren definitiv zu jung, um in jenem Jahr in Buenos Aires im Stadion gewesen zu sein.

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Es war wirklich so. In irgendeinem Pressezentrum an irgendeinem Coke-Automaten stand Johannes B. Kerner. Über den Fernseh-Kerner wurde durch das mobile Telefon dauernd durchgesagt, er sei so schlecht wie Faßbender, wenn nicht noch schlechter. Immer wenn das mobile Telefon von der WM zu erzählen glaubte, redete es in Wirklichkeit von Fernseh-Kerner.

In einer satellitenschüsselfreien Welt in Saint-Paul de Vence gab es aber keinen Fernseh-Kerner. Es stimmt zwar, daß man hier Tag und Nacht Gedanken über einen Vogts entwarf und wieder verwarf. Man wäre aber nicht im Traum auf die Idee gekommen, den Kerner am Coke-Automaten um Rat zu fragen. Das war gut. Ohne die Begrenzungen des Bildschirms war man frei. Das machte einen mächtig unsicher.

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Es war wirklich so. Da war ein Blumentopf auf dem stillen Platz vor dem Café Victor. Ein Hund kam und pißte an diesen Topf. Da wandte sich ein Gast an den Hund und sagte: „Max, hersch uff.“ Der Hund hieß aber weder Max, noch hörte er uff. Er pißte zu Ende und ging seiner Wege. Dann fiel auf einer Leinwand das Tor für Holland, und ein zweiter Mann sprang auf, machte eine Faust und sagte in holländischem Deutsch: „Und jetzt gegen Duitsland.“ Nun wandte sich der erste Mann an all jene Männer um die Fünfzig, bei denen auch der Satz „AH Eggenstein grüßt den Rest der Welt“ auf weißen Hemden prangte. Und dann sangen vielleicht fünfzehn deutsche Männer um die Fünfzig zur Melodie von Ricky Shaynes „Mamy Blue“ auf einem Platz vor dem Café Victor irgendwo im Süden des Landes. Sie sangen: „Hans-Hubert, Hans-Hubert-Hubert Vogts, Hans-Hubert Vogts.“

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Es war wirklich so. Noch auf der Tribüne machte man einander klar, daß das Spiel der Engländer gegen Argentinien jetzt ein richtig großes Erlebnis war. In St. Etienne, im Stadion, an diesem Tag, mit eigenen Augen, mit eigenen Ohren! Mit gewissem Abstand ist schwer zu sagen, ob man es selber war oder nicht doch ein anderer, der verkündete, damit habe sich „alles“ gelohnt, die Reisen, die Hitze, der Ärger, die ganze Vogts- Scheiße. Alle waren sich in dieser euphorischen Nacht sicher: Dieses Spiel, dieses wunderbare Gefühl mußte einfach bleiben.

Am nächsten Tag, im Angesicht des gelähmten Cursors, die furchtbare Enttäuschung: Nichts.

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Es war wirklich so. In einer Halle in der Nähe des Flughafens Cote d'Azur war ein Podium, auf das sich bis gestern täglich gegen Mittag der deutsche Fußballtrainer Berti Vogts setzte. Oder wenn nicht der, dann ein paar seiner Spieler. In der Folge wurden zügig einige Fragen an Vogts gestellt, die er in der Regel nicht beantwortete. Tatsächlich scheint es eine geheime Verabredung zwischen allen Beteiligten zu geben, daß die Veranstaltung genau diesem Zwecke diene. In der Halle waren große Fernsehschirme. Auf denen sah Vogts' steinernes Gesicht sehr bedeutend aus. Das Nichtgeschehen auf dem Podium wirkte dagegen richtig unwirklich. Alle Beteiligten machten sich täglich aufs neue darüber lustig. Am folgenden Tag standen phantastische Geschichten in jeder, auch in dieser Zeitung.

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Es war wirklich so. Die Polizisten auf dem Place de la Comedie verabschiedeten sich voneinander mit Handschlag in zwei aneinandervorbeiziehenden Reihen. Genau so, wie das eben auf der Leinwand Niederländer und Jugoslawen gemacht hatten. Drei Mexikaner und eine Mexikanerin spielten sich auf ansprechendem technischen Niveau einen Gummiball zu. Und dann haute ihn einer der jungen Männer in die sackschwarze Nacht von Montpellier und versuchte ihn bei seiner Rückkehr mit dem Nacken zu stoppen. Es klappte nicht.

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Es war wirklich so. Da fuhr ein Zug nach St. Etienne, in dem wollten die Engländer von den Norwegern wissen, ob alle ihre Frauen Heidi und Ingrid hießen. Ein Norweger mußte zugeben, daß Ingrid seine Schwester war. Dann machten die Engländer sich eifrig daran, ihr schönes Lied „Fuck off, you Geordie bastards“ umzuarrangieren in „Fuck off, you Argentinian bastards“. Immer wieder scheiterten sie. Warum nur? „Argentinian hat ein, zwei Silben mehr“, erklärten sie den Norwegern. Am Ende verabschiedeten sich Engländer und Norweger mit Handschlag; wie die Polizisten von Montpellier.

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Es war wirklich so. Kurz nach der Halbzeit wurden auf der Pressetribüne die Laptops eingesteckt. Dann riefen die Journalisten hektisch irgendwo an, um sich zu erkundigen, wie eigentlich das Spiel so war. Dann erkundigten sie sich untereinander, wie das Spiel so war. Das Spiel ist eigentlich im großen und ganzen immer wie immer. Einfach. Dennoch vermag keiner genau zu sagen, wie es ist. Es muß aber irgendwie gewesen sein, denn am nächsten Tag steht in sich kaum unterscheidenden Versionen in allen Zeitungen, wie es war.

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Es war wirklich so. Da fuhr ein Zug nach St. Etienne.

Es war wirklich so. Da war eine Turnhalle in Nizza.

Es war wirklich so. Das Spiel der Engländer war großartig.

Es war wirklich so. Klinsmann symbolisierte ein Prinzip.

War da wirklich nicht mehr?

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Es war wirklich so. Da war kein Beckenbauer, da war keine Fifa, kein Blatter, kein Frühstück, da waren keine Nigerianer und keine Dänen. Auch keine Hooligans. Die schon gar nicht. Es gibt zwar eine Eintrittskarte im Koffer, dennoch ist es heute schwer zu sagen, ob man überhaupt je in Lens war.

Da war ein Mädchen in Montpellier.

Das stand vor dem Stadion und trug das Trikot von Thomas Häßler. All denen, die das jetzt lesen, sei versichert: Es ist hundertprozentig sicher, daß man sie gesehen hat, und relativ sicher, daß es Häßlers Dreß war. Das Mädchen hat es jedenfalls gesagt. In Französisch zwar. Der Junge hat aber übersetzt. Man ging einfach zu ihr rüber, und sie bestätigte es. Nur gut, daß man da war: Wäre man nicht in Montpellier gewesen, hätte man es nie erfahren. Wäre das Mädchen allerdings nicht schön gewesen, hätte es einen auch überhaupt nicht interessiert. Es ist übrigens sicher, daß es schön war. Wenn etwas sicher ist, dann das. Ihr hättet sie sehen sollen.

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