Spielhosen für kleine Jungs

Am Ende des Jahrhunderts wird der Anzug informell. Prêt-à-porter für Männermode, Sommer 1999 – die letzte Mode des Jahrtausends. Große Dinge kündigen sich an. Eindrücke aus Paris  ■ Von Anja Seeliger

Im letzten Jahr wollten Männer, der Mode nach zu urteilen, nur eins: ihren Chef beeindrucken. Auf den Laufstegen sah man fast nur langweilige Streber in Anzügen, die offensichtlich 24 Stunden am Tag arbeiteten. Männer ohne Charme, Phantasie und Sex. Männer im Anzug halt. Aber da blieb ein Problem: „Wie bringt man einen 14jährigen dazu, sich einen Anzug zu kaufen?“ fragte Raf Simons in der International Herald Tribune. Die Pariser Prêt-à-porter- Schauen für Männer zeigten Anzüge für den letzten Sommer des Jahrtausends.

Raf Simons, 29, ist nach Martin Margiela, Dries van Noten, Dirk Bikkembergs und Ann Demeulemeester der neueste Star aus der Modeschule in Antwerpen. Irgendwas tun sie da ins Wasser. „Kinetic Youth“ stand auf der Einladungskarte, die in die Cité des Sciences et de l'Industrie einlud, am Rand des 19. Arrondissements von Paris. Das Publikum saß vor einem futuristischen Gebäude mit einer großen spiegelnden Kugel und auf beiden Seiten Brücken, hoch über den Köpfen des Publikums. Während David Bowie in ohrenbetäubender Lautstärke „ground control to major Tom“ brüllte, schritt die erste Riege blutjunger Models über die Brücke, kletterte zu uns herab und schritt dann, die riesige spiegelnde Kugel im Rücken, durch die Reihe. Es war unbeschreiblich modern. Simons zeigte klassische Herrenmäntel und Anzüge, denen er kurzerhand die Ärmel abgeschnitten hatte. Zart und weiß lagen die nackten Jungsarme auf dem dunklen Stoff. Die Hosen waren weit und saßen sehr tief auf den Hüften. Die Beine waren so lang, daß die Jungs mit ihren Turnschuhen auf den Saum traten. Bei einigen Hosen war der Stoff vorn, wo die Bügelfalte sitzt, von der Leiste bis zum Knie in eine Kellerfalte gelegt, die ab dem Knie weit aufsprang, so daß der Stoff wie eine Skaterhose über die Schuhe fiel.

Es war eine bestrickende Mischung aus klassischer Herren- und Spielhose für kleine Jungs. Andere Hosen hatten oben einen Gummizug wie Sporthosen. Aber das Spielerische wurde immer sofort zurückgenommen durch ein ernstes Detail, wie einen weißen Rollkragenpullover oder einen minimalistischen Blouson mit verdecktem Reißverschluß. Simons Mischung von Jungenhaftigkeit und Ernst war typisch vor allem für die jungen Designer.

José Lévy zeigte Anzüge aus Baumwolle, die an den Kanten farbig gepaspelt waren, und gestreifte Anzüge, die an Pyjamas erinnerten. Eine graue Hose kam mit einem türkisfarbenen Hemd daher. Fröhlich, möchte man meinen. Aber das Hemd war so steif, daß es geschlossen blieb, obwohl es am Hals ein Stück aufgeknöpft war. Ein kurzer Ärmel ist für Lévy ein Ärmel, der bis zum Ellenbogen reicht.

Dasselbe bei Burro: Da gab es Hosen mit schräg angekrausten Taschen oder Reißverschlüssen am Hosensaum. Aber die Blousons waren glatt und eckig, mit gerader Abschlußkante. Sie sahen aus, als hätte Mama sie für Opas Geburtstag so gründlich gebügelt, bis sie bretthart um den Körper stehen.

Dirk Schönberger machte dann überhaupt kein Zugeständnis mehr. Seine Hosen und Jacken hatten zwar Sportswear-Elemente wie Tunnelgürtel oder Gummizugbund, aber die Stoffe – Leinen und Baumwolle – waren so steif, daß die Kleider mehr wie Rüstungen aussahen als wie Sportswear. Pullis waren wie ein Brustschutz seitlich am Hemd festgeknöpft.

Dagegen sahen die Kollektionen von Christophe Lemaire und Dries van Noten sehr entspannt aus. Das lag zum Teil an den Farben. Lemaire zeigte etwa einen schmalen braunen Anzug zusammen mit einem leuchtend violetten Hemd. Die Jacke hatte aufgesetzte Taschen wie eine Sportjacke und war doppelt abgesteppt. Der Hemdkragen bildete hinten ein spitzes V, das den Rücken hinunter wies – wie eine Aufforderung, mit dem Finger einmal die Wirbelsäule runterzufahren. Neben Braun und Violett waren Kobaltblau und Ocker die schönsten Farbkombinationen. Es gab Sportjacken mit Reißverschluß und Kapuze und gestreifte Pyjamaanzüge mit braunen, orangen und grünen Streifen.

Dries van Noten hatte noch schönere Farben. Einige seiner Anzüge waren aus einem krumpeligen Stoff, der aussah, als hätte er ziemlich lange verknüllt in einer Truhe gelegen. Schwarze Jacken hatten weiße Nadelstreifen und dazwischen ganz zarte lila Streifen. Seine Version des Pyjamaanzugs war beige mit grauen und dunkelroten Streifen. Die Hosen waren manchmal an den Seiten mit roten Zickzackstreifen versehen, nicht sorgfältig arrangiert, sondern eher so, als hätte sich die Nähmaschine kurz selbständig gemacht. Beige Hemden waren mit grauen Blättern bedruckt und am Saum und an der Vorderkante mit einem floralen Muster in leuchtendem Rot oder Kobaltblau bemalt. Ein rotes Rayonhemd schmückten tintenblaue Blumen.

Kurios verteilt waren allerdings die erotischen Akzente. Bei den Hemden war gerade eben der oberste Knopf geöffnet, Reißverschlüsse waren grundsätzlich geschlossen, und Pullover hatten den kleinstmöglichen V-Ausschnitt – nur die Halsgrube war zu sehen. Dafür wurden die Hosen mit schmalen Ledergürteln zusammengehalten, die aus zwei Schnüren bestanden. Beim Gehen schwangen die Enden wie Pendel vor dem Geschlecht hin und her.

Je älter die Designer, desto romantischer die Kollektion. Yamamotos Defilé fand in der Pariser Börse statt. Wenn der Anzug für viel Geld steht, dann war dies zweifellos der passendste Ort für eine Männermodenschau. Hand in Hand schritten Pärchen durch den Saal. Alte Männer, junge Männer, dicke Männer und Frauen. Die Anzüge waren locker, die Jacken so breit in den Schultern, daß sie manchmal fast quadratisch wirkten. In ein knittriges schwarzes Jackett waren grünrosageblümte Stoffmuster eingearbeitet. Eine andere Jacke war mit einem Stückchen Fischernetz dekoriert. Am schönsten war ein junger Japaner, der in seinem schmalen schwarzen Anzug an August Sanders Fotografie eines Zigeunerjungen erinnerte. Die Jacke hing an ihm herunter, als hätte er sie von seinem Vater geerbt.

Rei Kawakubo hat für ihre Comme-des-Garçons-Kollektion die Rüsche ausgegraben. Zuletzt hat man sie vor etlichen Jahren noch an Smokinghemden gesehen. Bei Kawakubo zierte sie das Innenfutter von Jacken und Hemden. Von außen sahen die Anzüge ganz schlicht aus. Aber wenn die Jacke offen war, konnte man die Rüsche sozusagen im Vorbeigehen erspähen. Etwa beim zehnten Model war ihr dies dann aber doch zuviel Diskretion, und sie drehte die Jacken kurzerhand um, so daß das Innere nach außen zeigte. Am Rücken sah man dann perfekt verarbeitetes Futter und vorn – Rüschen. Wer sagt, daß Dekonstruktion keinen Charme hat?

Was ist nur mit dem Anzug los? 32 Schauen in Paris und kaum eine Krawatte zu sehen. Nur Paul Smith unterteilte die männliche Welt kurzerhand in „Artists and Dealers“ und zeigte damit zumindest zur Hälfte konventionelle Ware. Seine „Dealer“ waren Models mit kantigen Arno-Breker- Kiefern, die in tadellos geschnittenen dunklen Anzügen daherkamen. Mit einem pinkfarbenen Hemd, Seidenkrawatte und Manschetten.

Die „Artists“ waren Jungs mit fettigen Haaren und alten Turnschuhen. Ob Genie oder Loser, ließ sich nicht eindeutig festmachen. Sie trugen schlabbrige weite Pullover zu zerrissenen Jeans. Die T-Shirts waren am Hals ausgeleiert, die Leinenjacken mit Farbe bespritzt und die Hemden mit Blümchenborten bestickt. Es war ein etwas altmodisches Bild von Jugend, das Paul Smith vorführte: Jugend im Sinne von Unordnung und Rebellion. Auch die Idee, Jacken umzudrehen und die Verarbeitung vorzuzeigen, ist inzwischen ein ziemlich alter Hut. So was trägt heute jeder Werbetexter. Daneben sahen seine „Dealer“ ziemlich smart aus, in ihren beigen Anzügen mit den rosa Karos.

Am Ende dieses Jahrtausends wird der Anzug informell. Fragt sich nur, ob die 14jährigen Jungs, von denen Simons spricht, damit ins nächste spazieren.