Pelé kann maulen, soviel er will

■ Brasilien wird morgen Weltmeister, Frankreich eher nicht. Falls irgend jemand diese Selbstverständlichkeit begründet haben möchte: Ein taz-Kompendium liefert Argumentationshilfen

Brasilien wird im morgigen WM-Finale in Paris gegen Gastgeber Frankreich (21 Uhr, ARD) seinen Titel verteidigen. Warum? Und was folgt daraus? Zehn Fragen – und natürlich alle Antworten. Jetzt.

Muß man bei Mario Zagallo Abbitte leisten? Es stimmt: Das Ende des bedingungslos dem Toreschießen gewidmeten Offensivfußballs nahm seinen Anfang – in Zagallo. Als „hängender Linksaußen“ war er ein wichtiger Teil der brasilianischen Revolution von 1958, die über das WM-System (2-3-5) hereinbrach. Aber das ist Zivilisation, und man kann nicht Zagallo hauptverantwortlich dafür machen, daß sie heute noch sehr viel fortgeschrittener ist. „Brasilien hat immer das Spiel kontrolliert“, sagte Zagallo nach dem Halbfinale. Genau das hat der Trainer angestrebt. Kontrolle plus singuläres, aber bitte effektives Spektakel. Zagallo ist aber kein kalter Mann. „Seine Worte“, schwelgt L'Equipe, „sind die Worte der Liebe.“ Es ist lustig anzusehen, wie er mit kleinen Schritten gerannt kommt, während die Hymne schon gespielt wird. Wie er mit fester Stimme und großen Gesten zwingend erklärt, warum nur Brasilien ein Elfmeterschießen gewinnen kann. Und wie er seinem Liebling Bebeto nach den rituellen Auswechslungen über den Kopf streicht!

Ist Mario Zagallo vielleicht der Größte überhaupt? Man kann es so sagen: Penta ist das Wort der Worte. Penta heißt die Fünfte. Penta heißt also Zagallo. Da kann Pelé maulen, soviel er will. Wer war denn 1962 verletzt? Und wer hat 1958 und 1962 gespielt, 1970 spielen lassen, 1994 assistiert und diesmal die großen Individualkräfte in ein Konzept gebracht, das ihre Lust am Fußball nicht getötet, aber zentriert hat?

Was heißt das? Das heißt: Weltmeisterschaften gewinnt Brasilien nur mit Zagallo. Das ist eine schlechte Nachricht, denn in einigen Tagen wird er 67.

Hätte man von Ronaldo nicht doch noch etwas mehr erwartet? Nein. Der Witz an Ronaldo ist, daß man ihn dosiert einsetzen muß: wenige, entscheidende Aktionen in höchstem Tempo auf höchstem Niveau. Mit Ronaldo beginnt oder endet alles. Ronaldos Spiel ist erwachsener geworden, entspannter. Er muß nicht mehr jedes Tor selbst machen. Manche Stürmer müssen dazu 30 werden, Ronaldo ist immer noch erst 21.

Wie gut ist Rivaldo? Ziemlich gut. Rivaldo hat nicht nur die Nummer 10, er ist die 10. „Die Nummer 10“, sagt Rivaldo, „muß den Ball zu Ronaldo bringen.“ Rivaldo hat dafür den Rivaldo-Ronaldo-Paß geschaffen. Mit diesem bestraft er die kleinste organisatorische Schwäche oder den Übermut des Gegners, indem er Ronaldos Schnelligkeit und Torinstinkt Gelegenheit gibt, sich Ausdruck zu verschaffen. Als kleinen bescheidenen Dank hat Ronaldo seinerseits den Ronaldo-Rivaldo-Paß entwickelt. Ergebnis: drei WM- Tore von Rivaldo.

Wäre Brasilien mit 90 Minuten Denilson nicht noch besser? Wahrscheinlich nur brasilianischer. Denn: Denilson ist kreatives Risiko. Also nicht mehr Zagallo. Es verändert die Balance des Teams, die der ruhige Bebeto beisteuert bzw. nicht stört.

Ist Dunga wirklich so gut? Dunga (34) weiß alles, ist immer schon da und hat im gesamten Turnier wahrscheinlich keine drei Fehlpässe gespielt. Das ist das Spektakuläre an Dunga. Deshalb ist er nicht der Kapitän der Herzen, aber der von Zagallo.

Was ist das Geheimnis? Es wird nicht mehr wie einst erst eingeschläfert, dann überfallen. Es wird defensiv, aber immer volle Pulle gespielt. Nicht mehr „der Brasilianer“, der einzelne, Pelé, macht alles möglich, sondern eine mathematisch kalkulierte Summierung überragender einzelner Qualitäten. Keiner ist so schnell wie Roberto Carlos, keiner paßt wie Rivaldo, keiner vollendet so klinisch wie Ronaldo. Und: Bei der allgemeinen Fixierung auf Organisation auf höchstem Tempo kommt es erst recht auf die Technik an. Die Brasilianer haben die beste.

Wie viele gute Spiele gab es? Vier. Brasilien-Dänemark 3:2, Brasilien-Marokko 3:0, Brasilien –Chile 4:1. Und Brasilien-Holland (1:1) war natürlich das beste von allen.

Kleine Einschränkung der Eloge gefällig? Holland war nicht schlechter als Brasilien. Peter Unfried

Frankreich wird im morgigen WM-Finale in Paris gegen Titelverteidiger Brasilien den Titel nicht gewinnen. Warum? Und was folgt daraus? Zehn Fragen – und natürlich alle Antworten. Jetzt.

Wer soll für Frankreich die Tore schießen? Das allerdings ist die große Frage vor dem ersten WM- Finale einer französischen Mannschaft. Die neun Treffer in der Vorrunde hatten das Problem etwas aus dem Blick geraten lassen, daß treffsichere Stürmer fehlen. Nun steht es in seiner ganzen Pracht wieder vor Trainer Jacquet.

Kurzer Rückblick gefällig? Gegen Kroatien rettete Verteidiger Thuram mit seinen ersten beiden Länderspieltoren die ganze Chose, gegen Italien ging erst im Elfmeterschießen der Ball ins Tor, und Paraguay wurde durch Blanc, also einen Verteidiger, besiegt. Die Chancen waren da, wenn auch mit abnehmender Tendenz, nur die Angreifer nutzten sie nicht.

Also muß Aimé Jacquet anders spielen lassen? Aber wie denn? Mehr Stürmer, die das Tor nicht treffen, helfen auch nicht weiter. Und sobald Thierry Henry (immerhin drei Tore) eingesetzt wird, entstehen hinter ihm große Löcher, die von jedem Gegner mit großem Hallo begrüßt werden – so man Löcher begrüßen kann.

Ist es nicht unglaublich tragisch, daß Laurent Blanc fehlt? Ja. Nicht nur als persönliche Katastrophe für den besonnenen Mann. Nach seinem Platzverweis gegen Kroatien muß gerade im Finale die Abwehrkette ausgeflickt werden und damit der beste Mannschaftsteil. Die Stärken des Blanc-Ersatzes Frank LeBoeuf liegen zudem eher auf der Liberoposition als auf der des Innenverteidigers. Ronaldo und Bebeto könnte das freuen.

Wie gut ist eigentlich Zinedine Zidane? Nicht so gut, wie alle meinen. Im Spielaufbau des französischen Teams zwar die wichtigste Figur, konnte aber weder gegen Italien noch gegen Kroatien sein Spiel wirklich durchsetzen. Vielleicht hemmt ihn, daß er gegen Saudi-Arabien die rote Karte sah und zwei Spiele aussetzen mußte. Nach eigener Auskunft war auch deshalb das Viertelfinale „die wichtigste Partie meines Lebens“.

Das dürfte fürs Endspiel doch erneut gelten? Genau, denn Zidane wird im Finale dagegen antreten müssen, in entscheidenden Spielen die schwarze Katze seiner Mannschaft zu sein. Zidane verlor alle internationalen Endspiele: 1996 mit Bordeaux im Uefa-Cup, 1997 und 1998 in der Champions League mit Juventus Turin.

Wäre der Sieg im Finale ein Schlag ins Gesicht für Le Pen? „Spieler aller Farben und Kulturen repräsentieren heute Frankreich. Das ist ein Schlag ins Gesicht für Le Pen“, schreibt Journal du Dimanche. Le Pen, Anführer der rechtsextremen Front National, hatte vor zwei Jahre gesagt, daß zu viele Schwarze und andere Fremde in der Nationalmannschaft spielen würden. Allerdings ist zu befürchten, daß sich Le Pens Wähler mit dem Finaleinzug allein nicht zufriedengeben werden.

Wie viele richtig gute Spiele gab es? Soll das an Brasilien oder an Deutschland gemessen werden? Aus deutscher Perspektive waren alle Spiele gut. Aber durchgehend stark und überzeugend wirkte Frankreich nur gegen die schwachen Gegner aus Südafrika und Saudi-Arabien.

Was ist Frankreichs größtes Problem? Die Spitznamen der Spieler hören sich an wie die Besetzungsliste einer Off-Theateraufführung von „Ein Käfig voller Narren“. Leute, die sich „Zizou“ (Zidane), „Lolo“ (Laurent Blanc), „Dudu“ (Didier Deschamps) und „Titi“ (Thierry Henry) rufen lassen, können keinen Weltmeister stellen.

Kleine Einschränkung der Bedenken gefällig? Im Fußball ist alles möglich. Christoph Biermann