Vorsicht Badefänger!

Sie sind unterwegs an den belebtesten Küsten des Mittelmeers auf der Suche nach Menschen mit auffallendem Schicksal. Die Talkrundenorganisation der Vereinten Nationen warnt seit Jahren vor Überfischung  ■ Von Rüdiger Kind

Ächzend setzt sich die starke Motorwinde des Trawlers in Gang, Zentimeter für Zentimeter wird das Schleppnetz eingeholt. Käpten Holger Schöpflin sieht mit konzentriertem Blick seinen Männern zu, die hier, in der unbarmherzigen Glut der Mittagssonne vor der ibizenkischen Küste, den Fang an Bord hieven. Jeder Handgriff sitzt, es ist eine eingespielte Crew, die nun schon seit drei Jahren auf der „Stella Maris“ vor den belebtesten Badestränden des Mittelmeeres auf Menschenfang geht.

Als das Schleppnetz an Bord ist, verdüstert sich Schöpflins Miene zusehends – gerade mal drei Erwachsene mit Taucherbrille und Schnorchel und ein kleiner Junge mit Gummitier zappeln im Netz. „Zuwenig für die Hochsaison“, knurrt Schöpflin, wirft den Jungen samt Gummitier zurück in die Fluten und schreitet zur Befragung der Erwachsenen. „Wenigstens ist keiner verletzt“, murmelt der knorrige Seebär mißmutig in seinen Bart. Unversehrte und topffrische Ware sind das A und O der Lebendvermarktung.

Der Grund für die menschenverachtende Praxis, ahnungslose Badende, die sich zu weit ins offene Meer hinaugewagt haben, buchstäblich abzufischen, liegt in der drastisch gestiegenen Nachfrage der Fernsehsender nach Talkshowgästen. Jeden Tag flimmern ein gutes Dutzend Talkshows über deutsche Mattscheiben, längst haben sie sich aus dem Nachtreservat verabschiedet und beglücken den Zuschauer zu jeder Tages- und Nachtzeit mit Prominententratsch, Zurschaustellung aller nur denkbaren Perversionen und Schicksalsschlägen en gros.

Holger Schöpflin hat Glück. Als er erfährt, daß einer der Eingefangenen eine umfangreiche Preßlufthammersammlung in seiner Bottroper Zweizimmerwohnung untergebracht hat und seine Frau ihn deswegen verlassen hat, hellt sich die Miene des Käptens etwas auf. „So was hatten se noch nie. Den kann ich mindestens an drei Sender verkaufen.“

Die Nachfrage nach immer exotischeren Gästen übersteigt das Angebot inzwischen weit. Konnte 1990 der Bedarf noch locker an Land gedeckt werden, so müssen die TV-Veranstalter heute rund 10.000 Talkgäste pro Jahr heranschaffen, um die Vielzahl an Sendungen auch nur halbwegs bestücken zu können. Dieser Notstand ließ die Verantwortlichen auch auf die zynische Idee verfallen, das notwendige „Menschenmaterial“ aus dem Meer zu fischen.

Dramatische Folge dieses Raubbaus an menschlichen Ressourcen: Die ergiebigsten Talkgast-Gründe vor Gran Canaria, Ibiza und den Seychellen sind mittlerweile fast leergefischt, schon tobt der Kampf um die noch verbliebenen kläglichen Reste. Der jüngste Höhepunkt der Auseinandersetzungen: Die schnelle Eingreiftruppe von RTL brachte in den von ihrem Sender beanspruchten Fanggründen vor Sylt einen Seelenfänger des Konkurrenzsenders Sat.1 auf und zwang ihn zum Abdrehen. Begründet wurde die spektakuläre Aktion damit, daß es gelte – so die offizielle Version des Kölner Senders –, die bedrohten Bestände an deutschsprachigen Schlagersängern, die dort bevorzugt ihr Feriendomizil aufschlagen, zu retten.

Bereits 1993 hatten Wissenschaftler der Universität Hamburg vor dem Zusammenbruch des umkämpften Bestands gewarnt. Auch die Talkrundenorganisation der Vereinten Nationen Tago warnt seit Jahren schon vor der drohenden Überfischung der talkshowrelevanten Reviere. Doch ihre Mahnung änderte nichts an deren Ausbeutung durch skrupellose Programmgestalter.

Konsequenz dieses Treibens: Die Bestände werden immer kleiner. Immer häufiger finden sich in den Schleppnetzen der Talkgastfänger Menschen, die auch beim besten Willen nicht als TV-tauglich bezeichnet werden können – sogenannter „unerwünschter Beifang“. Nach Schätzungen der Tago sollen sich 1994 etwa 4.200 Body-Piercer, Tätowierungskünstler und andere nicht mehr vorzeigbare Arten in Treibnetzen verfangen haben, die eigentlich für den Fang von kritischen Liedermachern und Stasi- Bespitzelten ausgelegt worden waren.

Damit nämlich auch im Jahr 2010 noch vier Gäste pro Talkrunde zur Verfügung stehen, müßten die Fänger weltweit 72.000 Talkgäste aus den Gewässern herausholen. Sollten die Bestände jedoch weiterhin so rücksichtslos ausgebeutet werden wie bisher, ist das unmöglich. Nach Ansicht der Tago kann sich die Menschheit nur dann weiter mit genügend Talkgästen versorgen, wenn echte Züchtungserfolge erreicht werden und die Züchter ihre Produktion in den nächsten 15 Jahren mindestens verdoppeln.

Wenn Holger Schöpflin die Argumente der Kritiker hört, rastet er – sonst ein ruhiger Typ – regelrecht aus. Für ihn sind diese Kritker Menschen, die ihn und seinesgleichen um das verdiente Brot bringen wollen. „Ich will die mal hören, wenn die in jeder zweiten Talkshow Inge Meysel und Harald Juhnke zu sehen bekommen.